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der kleine Mann endlich aufhöre, nur die Fassade dieser Dinge zu
sehen, während ihr v/ahres Wesen ihm verhüllt bleibt vom Nebel
abstrakter Urteile für und wider sie. All die Zahlen, Statistiken,
Polemiken, herausgegriffenen Einzelfälle, die die Presse bringt, —
sie können nur von denjenigen richtig gewertet werden, die die Zu
sammenhänge zwischen sich und diesen trockenen Angaben — die
nebenbei in jeder Zeitung anders lauten — bereits erfaßt haben.
Wer schildert mit der Ueberzeugungskraft, die nur dem wah
ren Kunstwerk innewohnt, die Vorgänge in Fabriken und Berg
werken, in Gefängnissen, beim Kapp-Putsch, den Märzunruhen, in
Oberschlesien oder im besetzten Gebiet, in der Reichswehr, im
Schoß der Parteien, bei Holz, in den Krankenhäusern, in den See
bädern, Mörder- und Spitzelzentralen, in den Armen- und Waisen
häusern?
Wo sind die Bilder, die aufzeigen, wie schön die Welt ist und
wie Mßlich die Menschen sie sich gegenseitig machen, die dich
lesen lehren in jeder Falte deines eigenen Gesichts und dem des
Nächsten, ob du oder er Vertrauen verdient oder Mißtrauen. Wer
verewigt, was der Mensch nur zu leicht vergißt, alles Grauen und
Elend, Verbrechen und Niedertracht, Lüge und Feigheit, womit die
Gier nach Besitz das Dasein verseucht hat.
Wo sind die Lieder, welche den ökonomischen und politischen
Kampf der proletarischen Klasse schildern und befeuern (so wie die
Couplets und Schlager und tausend Operetten das erotische Niveau
der heutigen Gesellschaft spiegeln, ihre geschlechtlichen Tendenzen
propagieren und fortpflanzen). Wer komponiert den Klagege
sang des gefangenen Rotgardisten, das bittere, doch gläubige Weh
der Kommunistenwitwe, wer singt unsem Jubel über Rußlands
Standhaftigkeit, wer unsere Freude, daß eine Idee, eine unerschütter
liche Zuversicht unser Leben ausfüllt, daß wir nicht mehr durch
die Jahre laufen müssen, einsam und ohne Glauben, nur an uns
selbst denkend, von allen möglichen kleinlichen Leiden abgestumpft
und blind gegen das furchtbare Leid der Klasse, der Gesellschaft.
Hier gibt es kein Ende. Und kaum der Anfang ist gemacht!
Wie kann es da — und gerade unter Kommunisten — Künstler
geben, die die ganze Kunst für überflüssig, für bürgerlich halten
und darum lieber als Politikanten oder Konspirative figurieren?
Mit Recht wird vielleicht eingewandt, es sei nicht jeder Künst
ler befähigt, so tiefe und überzeugende gesellschaftskritische
Werke zu produzieren. Dann steht ihm das weite Feld der journa
listischen Arbeit offen! Dann ordne er sich den Anforderungen
der Wort- und Bildpropaganda unter. Das ist gleichzeitig die
beste, vielleicht die einzig'e Schule, um die Vereinzelung, den in-