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UNTER DER LUPE
Die russische Hungersnot.
Wir veröffentlichen nachstehend Teile einer Rede,
die Dr. Fritjof Nansen im Aufträge der Clar'e am
17. Februar für die Hungernden in Rußland ge
halten hat.
>r • • Jetzt endlich können wir die Funda
mentalfrage beantworten. Wie heißt diese
Fundamentalfrage? Sie heißt nicht etwa:
welches ist die Ursache der Ffungersnot?
Sie heißt vielmehr: braucht Rußland noch
Hilfe? Wird man den Bauern, dieser un
geheuren Landbevölkerung, die Möglichkeit
geben, ihre Arbeit wieder aufzunehmen,
sich wieder auszurüsten für die Bearbei
tung des Bodens, oder wird die Hilfe nur
Palliativcharakter tragen, ein provisori
sches Hilfsmittel sein, das im Grunde zu
nichts dient? Dieser Frage gibt es nur
eine Antwort: es ist der Mühe wert, Hilfe
zu schicken, und sie schnell zu schicken,
nicht allein um Menschenleben zu retten,
aber auch um den Geretteten weiter zu
helfen und genügende Mengen zu senden,
damit diese Getreidequelle Europas wieder
in Stand gesetzt werden kann. Aber man
hat mir folgendes gesagt: „Die Regierun
gen können nicht und sind nicht berechtigt,
sich um so ferne Dinge zu bekümmern,
ehe. sie nicht ihr Möglichstes für die Ver
besserung der Situation ihrer eigenen Län
der getan haben.“ Man sagt und man wie
derholt es: Europa könne sich den Luxus
nicht leisten, Rußland retten zu wollen,
und ich antworte, ich, mit aller meiner
Kraft, daß Europa sich den Luxus nicht
leisten kann, die Rettung Rußlands zu ver
nachlässigen. Wir dürfen diese Getreide-
kammer und diesen Markt nicht verlieren,
und die Not, die es bedroht, beschränkt sich
nicht auf dieses Jahr allein, sie wird sich
auch auf das kommende ausdehnen.
Europa darf diese beiden Monate nicht
verstreichen lassen, ohne die hungernde Be
völkerung zu retten und ihr die Möglich
keit einer neuen Aussaat zu bieten. Wenn
man dies nicht versucht, wird das Wolga
gebiet bald in eine Wüste verwandelt sein.
Im anderen Falle wird Rußland bald wieder
ein Markt für die europäischen Produkte
werden und das Wolgagebiet die reiche
Kornkammer, die es vorher war. Diese
Kornkammer und dieser Markt sind dem
ökonomischen Leben Europas notwendig,
und es ist nicht allein ein Akt der Wohl
tätigkeit, sondern ein gutes Geschäft, Ruß
land zu retten . ..
Schon vier Monate lang fordere ich von
den Regierungen, mir eine Summe von
5 Millionen Pfund Sterling zu gewähren,
um die Hungersnot zu bekämpfen.
Wenn wir diese Summe gehabt hätten,
hätten wir so viele Menschenleben retten
können! Jetzt fordere ich von den Regie
rungen drei, Millionen Pfund Sterling.
Das ist nicht genug, aber je mehr die ame
rikanische Regierung und die Sowjetregie
rung geben, umso leichter können wir
auch mit dieser Summe alles Notwendige
organisieren, mit Hilfe der schwachen
Transportmittel, die uns zur Verfügung
stehen. Doch die Völker müssen ihren
Regierungen klarmachen, daß es notwendig
ist, zu handeln und sofort zu handeln,
sonst wird es zu spät sein.
Vier Monate ist es her, als ich von dem
Kampf gegen Kälte und gegen Hunger
sprach. Damals glaubte ich etwas über
den Hunger und über die Kälte zu wissen.
Aber der Kampf ist viel schlimmer, viel
schrecklicher, als ich ihn mir vorstellte.
Ich erwartete gewiß dort unten Leiden und
Tod zu finden, das schrecklichste Elend, das
man sich überhaupt vorstellen kann. Aber
das, was ich dort vorfand, das waren Dör
fer, Städte, Provinzen, in denen eine bis
ins Mark geschwächte Bevölkerung von
Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag ihren
Tod erwartet. Ich hatte mich nicht darauf
gefaßt gemacht, menschliche Wesen sehen
zu müssen, die durch die Gewalt des
Hungers in Bestien verwandelt worden
sind, Männer und Frauen, die noch bis vor
einigen Monaten zur großen Familie der