Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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DIE ERSTE INTERNATIONALE AUSSTELLUNG 
NEUER KUNST 
Genf, 23. Dezember 1920 bis 25. Januar 1921 
Eine Welt stirbt,, 
Eine Welt entsteht. 
In dem großen Ringen der Nationen erlitt 
eine ganze Ideologie, die in einem höheren 
Grade als das geschriebene Gesetz die Völker 
geleitet hat, den Todesstoß. Die Seele des 
Menschen von gestern spiegelt sieb in der Kunst 
wieder wie die schon verschwundene Sonne am 
dämmernden Horizont des Abends. 
Aber siehe — gleich der raschen Vegetation, 
die schon im ersten Frühling des Friedens dem 
kriegzerwühlten Boden entsproß — entsprang 
ein neuer Geist den Tiefen der gemarterten 
Menschheit. Die Seele der Menschen von 
morgen spiegelt sich in der Kunst wieder wie 
die kommende Sonne am dämmernden Horizont 
des Morgens. 
Tod und Wiedergeburt, das ist das pathe- 
tische Thema des Dramas, lesbar für die, welche 
sehen können, in den 1000 und noch einigen 
Gemälden dieses ersten internationalen Salons 
der modernen Kunst. Gewisse Werke, obwohl 
heute oder erst vor wenigen Jahren ausgeführt, 
verbreiten den Geruch des Todes. Die anderen, 
strahlend von Leben, haben die Frische der 
Kindheit. Spleen oder Freude, komplizierte 
Gefühle, kindliche Gesichtspunkte, hinreißende 
Ungeschicklichkeiten, erregende Gewandtheiten, 
subtile Übertreibungen, erste Freimütigkeiten, 
die ganze Antithese der gegenwärtigen Welt 
ist enthalten im Werk der Künstler, der Inter 
preten »ihrer« Völker. 
Dennoch, um die Wahrheit zu sagen, dieser 
erste internationaleSalon gibt kein vollkommenes 
und getreues Bild dieser Welt und dieser Anti- 
these. Die politischen Ereignisse, die wirtschaft 
liche Krise, die Valutaschwierigkeiten sind schuld 
daran, nicht die Unzulänglichkeit der Veran- 
stalter. Rußland, ein großes Volk, ohne Zweifel 
reich an großen Künstlern, fehlt bei dem Fest. 
Eine ungeheure Leere, durch unsere Phantasie 
vielleicht noch vergößert, vertritt den Platz. Wer 
weiß, ob nicht die Energie, welche die junge 
Schule beseelt, ihre volle Expansion im Osten 
Europas erreicht hat? Deutschland, ehedem dem 
Einfluß des französischen Impressionismus unter** 
worfen, hat schon das Eis gebrochen und ar 
beitet auf eigene Weise. Welche Hauptstadt 
wird im 20. Jahrhundert die Rolle spielen, die 
Paris und München im 19. Jahrhundert inne- 
gehabt hat? Hoffen wir, daß die zweite inter 
nationale Ausstellung uns diese Frage beant- 
Worten wird. 
TRANKREICH 
Es geziemt sich, uns vorerst zu neigen vor 
zwei Meistern, die nicht mehr sind, denen aber 
alle Maler Europas, welche immer sie auch 
seien, Dank schulden: Renoir und Gauguin, 
die eigentlichen Befreier der Kunst, mit Cezanne 
<der nicht vertreten ist). Dann sehen wir hier 
Serusier, einen der ersten Erben des Werkes 
der Emanzipation. 
Unter den Kämpfern von heute erkennt man 
als Flügelmänner der Vorhut Derain und 
Dufresne. Derain, ein klarer Analytiker, 
ein tiefer Realist, dessen Werke in ein spiritu 
elles Licht getaucht sind (sein Stilleben würde 
im Louvre sicherlich der Nachbarschaft der Le 
Nains und des Chardin standhalten),■ ein Ana* 
lytiker, dessen Augen die Materie durchdringen, 
ein Lyriker mit schöpferischen Händen, welche 
die Wirklichkeit wieder im Bilde herstellten, im 
Bilde einer inneren Vorstellung, wo die Ver 
nunft herrscht und die rohe Arbeit der Natur 
im menschlichenSinne vervollkommt. D u f r e s n e, 
weniger herb, mehr geneigt sich hemmungslos 
den Elans seiner prachtvollen Sensibilität hin 
zugeben, ein feuriger Kolorist, ein in die Üppig 
keit der Materie verliebter Maler, saftig und 
klar, dessen imaginäre Konstruktionen noch 
stark imprägniert sind von der Hitze, dem Ge 
schmack und den Farben, die dem entborgt sind, 
was die Natur manchmal an Übertreibung auf 
weist.
	        
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