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die Erde blickt, sie haben an die Stelle der
strengen harten Statuarik einer pantokratischen
Weltidee die hingebungsvollen und rührenden
Gestalten gesetzt, die in jeder Geste ihre Liebe
zur Welt und zu den Menschen erweisen, die
nicht Herrscher sind, sondern Erlöser.
In einem schönen Vortrage, der im Rahmen
der Ausstellung gehalten wurde, wies Frau
Fanina Halle auf diese wesentlichen Züge der
russischen Kunst hin.*) Von den zahlreichen
treffenden Worten die sie ihren Hörern gab, ist
mir dieses Wort Mereschkowskys, das er schon
lange Jahre vor dem Kriege, wenn ich nicht irre,
im Jahre 1905 niederschrieb, haften geblieben,
weil es so unerhört klar in das Wesen der
dunklen russischen Seele und damit auch der rus*
sisdien Kunst hineinleuchtet: »Europa kennt
nur den Leib, nicht die Seele der russischen
Revolution. Die Seele des russischen Volkes
bleibt Euch ein ewiges Rätsel,- denn der mystische
Wille ist es, der ihr Grundprinzip bildet und
der Euch zum Teil durch die Werke unserer
größten Dichter Tolstoy und Dostojewsky ver
ständlich gemacht worden ist. Zum Teil, aber
nicht ganz. Um ihn völlig zu erfassen, genügt
es nicht, uns zu lesen, man muß uns leben und
das ist schwer und furchtbar, viel furchtbarer als
Ihr es Euch vorstellt. Wir sind Eure Gefahr,
Eure Wunde, wir sind der Stachel, den Gott
oder Satan in Euer Fleisch gebettet hat, wir
werden Euch Qualen bringen, doch nur zu
Eurem Besten. Und wir sehen Euch nur so
ähnlich, wie die linke Hand der rechten ähnlich
sieht. Die linke kann sich nie völlig mit der
rechten decken, es sei denn, daß man eine der
beiden wendet. Wir gleichen Euch, doch nur im
verkehrten Sinne. Rußland ist wie ein Spiegel
bild von Europa. Kant hätte gesagt, daß unser
Geist im Transzendentalen und der Eurige im
Phänomenalen liegt. Nietzsche hätte gesagt,
bei Euch herrscht Apollo, bei uns Dionysos.
Euer Genie liegt in der Mäßigung, das unsrige
in der Ausschweifung. Ihr versteht, rechtzeitig
aufzuhören. Wenn Ihr an eine Mauer stoßt, so
bleibt Ihr stehen oder kehrt um, wir rennen uns
*> Vergl. auch ihr Buch »Alt-russische Kunst in der
Serie Orbis pictus«. Wasmuth-Verlag.
aber die Köpfe ein. Es fällt uns schwer, uns auf*
zuraffen, wenn wir uns aber einmal aufgerafft
haben, so bleiben wir nicht stehen. Wir gehen
nicht, wir laufen, wir laufen nicht, wir fliegen, wir
fliegen nicht, wir stürzen. Ihr liebt den goldenen
Mittelweg, wir lieben das Äußerste. Ihr seid
nüchtern, wir sind trunken. Ihr seid gerecht, wir
haben keine Gesetze, Ihr versteht es Euer Seelen*
heil zu retten, wir sind stets bestrebt, das unsrige
zu verlieren. Ihr besitzt den Staat von heute,
wir suchen den Zukunftsstaat, wir werden Euch
Qualen bringen, doch nur zu Eurem Besten,
denn wir bedürfen einander wie die Rechte der
Linken bedarf.«
Die russische Ausstellung der Galerie v. Gar*
vens ist ein Ereignis für Hannover. Sie ist so
glücklich angeordnet, daß man immer wieder
seine Freude daran haben muß und nur eine
Pflicht erfüllt, wenn man hier des begeisterten
Sammlers Herbert von Garvens*Garvensburg
und seines treuen Mitarbeiters Hans Krenz ge*
denkt. Der Kestner*Gesellschaft, die vier Jahre
lang allein in Hannover der jungen Kunst den
Weg zu bahnen suchte, ist in dem neuen Unter*
nehmen nicht — wie man glauben möchte —
ein Konkurrent, sondern ein von denselben
Überzeugungen erfüllter Kampfgenosse erstan*
den. Freundschaftliche Beziehungen verbinden
die beiden Institute, deren vereintes Wirken auch
in der Folgezeit nicht nur in Hannover, sondern
auch darüber hinaus Widerhall und ermunternde
Zustimmung finden möge. P. E. Küppers.
Vom Moskauer Künstlertheater
Nach langem, heißem Für und Wider faßte
man am Ende der Spielzeit 1918/19 den Ent*
Schluß, einen Teil der Schauspieltruppe des
Moskauer Künstler *Theaters mit Herrn Kat*
schalow und Frau Knipper*) an der Spitze, zu
einer Gastspielreise nach Südrußland zu beur*
lauben. An die Tournee sollte sich dann eine
Erholungszeit schließen, die den Künstlern über*
aus nottat, da ihre Arbeitsleistungen unter den
obwaltenden schweren Lebensbedingungen ihre
Kräfte bei weitem überstiegen. Zwar wäre
allen Schauspielern ein Weilchen der Ruhe, eine
•> Die Witwe Tschechows.