172
herausgab und audi den ersten Artikel über Picasso
schrieb, den er als »geistig mehr Lateiner, rhythmisch
mehr Araber« charakterisierte. Bei den Kunsthändlern
herrschte nur geringes Interesse für Picasso — aus*
genommen hei Vollard, Clavis, Sagott und Fräulein
Weill. »Picasso verschenkte mehr Werke, als er ver*
kaufte.« Der Schauplatz der Ereignisse dieser Zeit
bis zur Gehurt des Kubismus war das aus Holz kon*
struierte fünf Stockwerk hohe, dem Hängen der Butte
Montmartre angepaßte Atelier auf dem Ravignan*
platz. »Hier malte Picasso mitten unter seinen un*
entbehrlichen und sehr viel Raum einnehmendenWerk*
zeugen, inmitten der vertrauten Versammlung der
Negerstatuen, treulich bewacht von jener Hündin
Frika, die ich ihm geschenkt hatte, in seinen blauen
Unaussprechlichen, stets adrett, als käme er aus der
Reinigungsanstalt, malte, die Pfeife zwischen den
Zähnen, mit aufmerksamer Ängstlichkeit.«
Eine eigentliche Geschichte der Genesis des Ku*
bismus sowie eine scharfe Abgrenzung des Anteils
der verschiedenen Künstler an der Ausbildung der
neuen Formensprache, vermissen wir bei Raynald.
Diese Lüchen füllt Daniel Henrys »Weg zum
Kubismus« ebenfalls im Delphin-Verlag
München erschienen) aus. Wirerfahren aus diesem
Buche, daß der Ausdruck »Kubismus« wie so viele
andere Stilbezeichnungen als Schimpfwort geprägt
wurde und zwar von dem Kunstkritiker des »Gil
Blas«, dem Louis Vauxcelles, dem auch die Bezeich*
nung »fauves« zugeschrieben wird. Diesem Louis
Vauxcelles »begegnete im September 1908 Matisse,
der in diesem Jahre Mitglied der Jury des Salon d'au*
tomne war, und erzählte ihm, Braque habe zum
Herbstsalon Gemälde »avec des petits cubes« ge*
sandt. Zur Beschreibung zeichnete er auf ein Stüde
Papier zwei aufsteigende, oben sich berührende Linien
und zwischen diesen einige Würfel«. In einem Auf*
satz Vauxcelles über den Salon der Unabhängigen
1909 findet sich dann der Ausdruck Kubismus zum
erstenmal auf zwei Bilder von Braque angewandt.
Die früheste Schwenkung zum Kubismus fällt un*
gefähr in das Jahr 1907: Braque und Picasso voll*
führten sie fast gleichzeitig, ohne daß einer vom an*
deren wußte. Auch Derain geht ein Stüde Weges
in der gleichen Richtung <bis zu dem Punkte, da Braque
und Picasso die Objektdarstellung aufgeben). Noch
1906 sehen wir Braque mit Derain, Matisse und an*
deren fauves dabei, den Impressionismus in einem
farbig dekorativen Sinne weiterentwickeln. Picasso
freilich hat sich auch in seiner vorkubistischen Zeit
nie mit dem Problem der Farbe abgegeben, weder in
der Epoche des Saltimbanques, noch in der blauen,
noch in der rosa Epoche. Während die fauves den
impressionistischen Kolorismus übersteigern, unter*
wirft sich Picasso einer streng monochromen Askese.
Nie hört er auf ein Fanatiker des Konturs zu sein,
nie entzieht er sich dem Zwang einer streng durch
geführten Komposition. Es ereignet sich, wofür das
Gemälde »Die Kugel« <1905) ein gutes Beispiel ab
gibt, daß ihm sein bildarchitektonisches Streben in
die Nähe Marees führt. Bei einer Gestalt wie der
des »Blinden« <1903) werden wir zum Vergleich mit
griechisch*archaischer oder ägyptischer Kunst aufge*
fordert. Den Stil des Ölbildes »Die Suppe« könnte
man am besten als einen zur Primitive neigenden
Klassizismus umschreiben. Endlich möchte ich noch
auf »Die Familie Soler« <1903), als dem deutlichsten
Beispiel eines durchkomponierten Gemäldes, ver
weisen. Die Figuren lassen sich in eine Ellipse ein*
schreiben, deren Längsachse ungefähr mit der Dia
gonale des Bildviereckes zusammenfällt. Die Größe
der Figuren wechselt derart, daß ein jambischer Rhyth
mus mit drei Senkungen und drei Hebungen entsteht.
Das Stilleben im Vordergrund, in Draufsicht dar
gestellt, zeigt Picasso unter Cezannes Einfluß. Die
Gestalten der Eltern und Kinder sind mit den Augen
des Zöllners gesehen.
Die formale Disziplin, die Picassos Schaffen schon
immer merkwürdig von der Kunst seiner Zeitgenossen
unterscheidet, verstärkt sich noch weiterhin bis 1906.
Um diese Zeit treten Deformationen auf, wie sie sich
die fauves mit Vorliebe zu Schulden kommen ließen.
Im Winter 1908 finden sich Picasso und Braque
zu gemeinsamer Arbeit zusammen. Im folgenden
Jahre schreitet der Ausbau der neuen Formensprache
fort. Als Gegenstände werden dabei Fruchtschalen,
Flaschen, Gläser und die von Braque eingeführten
Musikinstrumente bevorzugt. Alle von Picasso oft
wiederholten Versuche, die Farbe als gleichberechtigt
in das Bild einzuordnen, scheitern. Während Braque
1910 den »realen«, d. h. naturvortäuschend gemalten
Gegenstand <z. B. Nagel mit Schatten) und die Buch
staben in das Bild aufnimmt, »durchbricht Picasso
die geschlosseneForm«, d. h. er vollzieht die radikale
Scheidung zwischen Naturform und Kunstform. Da
mit erst kommt der Werdeprozeß der neuen Methode
zum Abschluß. Die Neuerung der Jahre 1913 und
1914: die Verquickung von Malerei und Skulptur
ist ebenfalls eine gemeinsame Tat von Braque und
Picasso <aus der sich die Skulpturmalerei bei Lip*
schitz Laurens und Archipenko entwickelt). Es wäre
noch der Aufnahme von Papier, Holzstücken und