Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Archipenko erlitt, wie er zugibt, den so poetischen Einfluß des wissenschaftlichen Geistes des XIX. Jahr- 
hunderts, und dieser Einfluß beherrschte seine Empfindsamkeit. Die Häuser werden nicht ewig aus Stein 
sein, sondern auch einmal mit Hilfe des vom Menschen geschaffenen Eisens erbaut werden, zum Mörtel, 
zur Elektrizität wird das Licht kommen etc., und die moderne Kunst wird sich von diesen fabelhaften 
Illusionen nähren. 
Da die Nachahmung zu keiner beachtenswerten künstlerischen Spekulation die Grundlage zu legen vermag, 
ist Archipenko der Ansicht, daß das Kunstwerk einen besonderen, ohne Sorge um jegliche Nachahmung dar 
gestellten Gegenstand schaffen wird. Das Kunstwerk wird eine künstlerische Tatsache sein,- es wird genau 
das sein, was Wissenschaft oder Soziologie ein »Gesetz« nennen, das heißt eine Gesamtheit notwendiger 
Beziehungen. Der Zwedt der Kunst ist weder das Ideal noch die Wirklichkeit, sondern das Wahre. Wir 
wissen ja ohnehin, daß die Wahrheit uns nicht durch die Sinne gegeben wird. Die Nachahmung der Natur 
wird lediglich der Primitivismus sein, wie man heute vcfn der Photographie sagt: die Methode des Affen ist 
dann hinfällig. 
Archipenkos Abneigung gegen servile Nachahmung der Natur, eine Folge seiner etwas zu jungen Freude 
an den »Fauves«, wurde endgültig, als aus seiner Phantasie jene Ästhetik der Äquivalenz entstand, die durch 
ihre verstandesgemäße Legitimität und poetische Kühnheit die Kunst erneuern sollte. Augustins ewige Wahr 
heit: »Die Zahl ist alles in der Kunst« mußte sich durch die Berührung mit dem modernen Geist verjüngen, 
und ich habe zu wiederholten Malen gezeigt, wie sehr trotz gewisser Widerstände das Prinzip der Äquivalenz 
im Einklang stand mit den poetischsten philosophischen und den wunderbarsten mathematischen Lehren. 
Nach dem »Analysis situs« sind in der Tat zwei menschliche Gesichter, deren eines von einem Künstler 
gemalt und deren anderes von einem Kinde grob nachgeahmt worden ist, zwei äquivalente Oberflächen. Es 
ist eine Art Gleichheit im Geiste statt buchstäblicher Gleichheit. Die Zahl ist nicht gebrochen wie bei den 
»Fauves«, sondern angepaßt, und so stellt Archipenko der starren Zahl Augustins die geschmeidigere Har 
monie moderner Auffassung gegenüber. 
Letzten Endes ist die Zahl stets auf dem Grunde der Kunst und der innegehaltenen Tradition. 
Von da ab bricht Archipenko die Linien, vervielfältigt die Winkel, verkürzt die Körper und unterdrüdct 
die Einzelheiten. In manchen Zeichnungen verdoppelt oder verdreifacht er die Linien und unterstreicht so 
verstandesgemäße Deformationen und sichert nichtsdestoweniger den poetischen Reiz. In gewissen Skulpturen 
rät die Einfachheit der Architektur den Künstler zu synthetischen Absichten, deren Ergebnisse einen kaum 
definierbaren Reiz haben,- man denkt an jene binare Numeration der Chinesen und des Philosophen Leibniz, 
die für moderne Mathematiker zwar unbrauchbar, aber der Schlüssel zu Geistesspielen ist, darin größte Kühn 
heit sich mit der verführerischen Kraft des Unbekannten paart. Manche erinnern sogar an jene merkwürdigen 
jüdischen in Cäsarea gefundenen Statuen, die das Museum Guimet nun bereits vor fünfzehn Jahren ausstellte. 
Die Kraft, der Glanz und die Kühnheit in Archipenkos Werk schließen niemals die Anmut aus. Und der 
naive und der komplizierte Künstler wirft sich ohne Überlegung auf Schwierigkeiten, die er nur dank seiner 
handwerklichen Tüchtigkeit zwingt, die seine Anschmiegsamkeit ergänzt. 
Am tiefsten erregen die Aufmerksamkeit die Skulpto-Malereien benannten Werke, die angenehm über 
raschen. Sie sind mit ägyptischen Bas-Reliefs, sogar mitKambodja-Reliefs verwandt und glänzen wie römische 
Mosaiken <Opus vermiculatum),- sie sind mit Hilfe der verschiedensten Materialien konstruiert aus Glas, 
Eisen, Holz und Pappmache. 
Die von Archipenko erzielten Ergebnisse sind seltsam bestechend. Die Überordnung verschiedener und 
farbiger Ebenen ergibt einen Anblick, der weder der der Malerei, noch der der Skulptur, noch ein Kompromiß 
zwischen beiden ist, sondern »etwas anderes«. Zweifellos ist von beiden etwas »drin«, aber die glücklichen 
Funde, deren diese Werke voll sind und über die ich, hätte ich Zeit, mit den zahlreichen Bewunderern noch 
viel zu sagen hätte, bilden eine der größten künstlerischen Versuche unserer Zeit. 
Wenn das Tageslicht erstaunt ist, nicht mehr über runde Buckel zu lecken, die zum Verzweifeln sind, so 
liegt das daran, daß Archipenko das Licht bezwungen und seinem Willen unterzuordnen verstanden hat. 
Archipenko hat dem Lichte Quellen erschlossen, die es nicht vermutete: Archipenko hat ein neues 
Licht erfunden. 
Anm. d. Red. Soeben ist im Verlage G. Kiepenheuer, Potsdam, ein Archipenko»Album erschienen mit 33 vorzüg 
lichen Abbildungen und Einführungen von Theodor Däubler und Iwan Goll. Preis geb. Mk. 40.—
	        
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