Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

aus einem Gedichte der anakreontischen Zeit zu er* 
innern: 
»Bei Tag, und sonderlich bei Nacht, 
Nur an nichts Reizendes gedacht!« 
Welch ein Befehl für einen Zeichnergeist, 
Den jeder Reiz bis zum Entzücken reißt! 
Des Bouchers Mädchen nimmt er mir 
Aus meiner Stube, hängt dafür 
Mir eine abgelebte Frau, 
Mit riesigem Gesicht, mit halbzerbrochnem Zahne, 
Vom fleißig kalten Gerhard Dow 
An meine Wand,- langweilige Tisane 
Setzt er mir statt des Weins dazu. 
Goethe an Friderike Oeser 
Frankfurt, den 6. Nov. 1768. 
<Ausgabe Cotta Bd. 3, S. 57.) 
MAPPENWERKE 
Der Sieg der Farbe 
Die entscheidende Zeit unserer Malerei in 
40 farbigen Lichtdrucken. Herausgegeben 
von Adolf Behne. Photographische Gesell* 
schaff, Charlottenburg. 
Uns vom Epheu einer hypertrophischen 
Kunstliteratur halberstickten entringt es sich 
schmerzlich: Genug der Worte und Anschau* 
ungssurrogate. Aber gerade in dieser despa* 
raten Stimmung sind wir besonders empfänglich 
für eine Tat — setzen wir gleich: Wohltat — 
wie sie von dem Mappen werk »Der Sieg der 
Farbe« unternommen wird. Das sind keine 
entbluteten Reproduktionsgespenster, sondern 
getreue Spiegelbilder lebendiger Kunst: Die 
Technik, hier nicht Verfälscherin, sondern liebe* 
volle Dienerin der Kunst. 
Fünf Blätter liegen bis jetzt vor: ein Nolde, 
ein van Gogh, ein Feininger, ein Morgner und 
ein Henri Rousseau. Es wird wohl den meisten 
so gehen wie mir, daß sie die zarte Lyrik der 
»Zollstation« Rousseaus am tiefsten rührt, und 
der »Zuave Molliet« van Goghs am stärksten 
hinreißt, wie sehr auch die »Schwärmer« Noldes 
packen und die noble Malerei der Komposition 
Feiningers entzücken mögen. 
Die Leistung, die heute schon vorliegt, läßt 
uns die baldige Verwirklichung des Ganzen 
dringend wünschen,* um so mehr als das Pro* 
gramm des Werkes eine Auswahl unter den 
führenden Künstlerpersönlichkeiten des 19. und 
20. Jahrhunderts gewährleistet, wie sie nicht 
besser hätte getroffen werden können. 
d. n. 
Karl Jakob Hirsch: Mahlermappe 
<Adolf Harms Verlag, Hamburg) 
Kein literarischer Versuch. Keinerlei gegen* 
ständliche Hermeneutik. Reine absolute Malerei. 
Man muß die große, ganz kosmisch anmutende 
Geste bewundern, mit der hier derLebensrhyth* 
mus von Gustav Mahlers Musik in lineare 
Rhythmen transformiert wurde. Der Versuch 
Musik zu malen ist durchaus nicht neu. Aber 
es wäre falsch dieses Werk in irgendeinen Zu* 
sammenhang mitKlingersBrahmsphantasien oder 
selbst mit Kokoschkas Bachmappe zu bringen. 
Hirschs Blätter durchglüht eine Ekstase, die, 
selbst wenn man technische Bizarrerien festzu* 
stellen meint, sie rein als Erlebnis weit über 
diese Werke stellt. Man hat den Eindruck 
einer in die Unendlichkeit des Metaphysischen 
geschleuderten Ausdrucksgewalt in eine Un* 
endlichkeit, wo die Parallelen von Musik, Dich 
tung und Malerei sich schneiden. Denn die Be* 
Ziehung zu Mahlers Simphonien ist keineswegs 
eine subjektive. Man wird nicht fehlgehen, wenn 
man hinter Hirschs mittlerweile bis zu oft bru* 
taler Eigenart gereiftem Stil französische Schu* 
lung vermutet. Die <kubistische Einflüsse nur 
noch ahnen lassende) höchst persönliche Kom* 
Position zeigt eine Vollendung und Disziplin, 
deren Seltenheit in der heutigen Kunst nach* 
gerade bedenklich wurde. Hier ist tatsächlich 
ein neuer Weg zu jener jungen Klassizität ge 
funden, in deren Vollendung Busoni die Auf* 
gäbe der kommenden Generation sieht. Allen 
Verehrern Mahlers werden die Lithographien 
als ein inbrünstiges Bekenntnis zu der Musik
	        
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