Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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ÖSTERREICHISCHE ERZÄHLER 
Den besten Beweis für die Beliebtheit und Gelesenheit 
moderner österreichischer Erzähler geben die Auflage» 
Ziffern, die von den Publikationen eines durchaus austro» 
phil orientierten Leipziger Verlages erreicht wurden. Nun 
wird in Wien von dem neugegründeten Rikola»Verlag 
der nationalökonomisch durchaus gerechtfertigte Versuch 
unternommen, die heimische Literaturproduktion im Ent» 
stehungslande selbst auszuwerten. Eine geschlossene 
Phalanx erprobter und erfolgsicherer Wiener Autoren 
marschiert im Zeichen des Rikola» Verlages auf das deutsche 
Lesepublikum los. Hauptsächlich sind Vertreter der jungen 
Generation aufgeboten, aber mit Ausschluß aller radikalen 
Elemente <von deren subalterner Existenz einige nicht 
sehr erfreuliche Veröffentlichungen des Wiener Verlages 
E. Strache Zeugnis ablegen). Es ergibt sich, daß die 
»Wiener Jugend« mit ebensoviel Geschieh, wenn auch mit 
geringerer Begabung als die Schnitzler, Ginskey, Bartsch 
usw., um eine Augmentierung der Unterhaltungsliteratur 
bemüht ist. Nun muß aber gesagt werden, daß die Wiener 
Unterhaltungsliteratur seit Schnitzler qualitativ höher zu 
bewerten ist, als die reichsdeutsche Konkurrenzproduktion. 
In Wien gedeihen jene ohne Geschmacklosigkeiten und 
Übertreibungen unterhaltsamen Erzähler, die hinreichend 
gesellschaftlichen Takt besitzen, um mit Maß nachdenklich 
und gefühlvoll Problemchen einer meist erotischen Psycho» 
logie in eine spannungsreiche Handlung zu kleiden. Vom 
Kampf und Krampf des jungen Deutschland ist da so gut 
wie nichts zu spüren. Aber überlassen wir diese Literatur 
jenen, an die sie sich wendet: den Damen und Herren der 
neudeutschen Bourgoisie, die Wien, dieser traditions» 
reichsten, aber abgelebtesten Großstadt Europas, die Rolle 
eines arbiter artium elegantiarum zusprechen. 
Nun finden sich in der Reihe der Unterhaltungsromane 
des Rikola »Verlages zwei Werke, denen man Unrecht 
täte, wollte man sie mit dem Maß der Soykas und Hohl» 
baums abschätzen. Das eine — Die Geburt des 
Antichrist — ist eine abenteuer» und gestaltenreiche 
Erzählung von Leo Perutz: ein in Palermo friedlich 
dahinlebender Schuster ehelicht die Magd eines Pfarrers und 
erhält von dieser einen Sohn. Bald nach derGeburt desselben 
hat der Schuster einen seltsamen Traum, der ihn aufs tiefste 
beunruhigt. Ein bibelkundiger Bauer weiß ihn als Traum 
vom Antichrist zu deuten. Aus einer Weissagung des 
dem Schuster im Traume erschienenen Presbyter Johannes 
erfährt der Vater, daß der Antichrist am heiligen Weih» 
nachtsabend als Sohn eines entsprungenen Mörders und 
einer entlaufenen Nonne geboren werden würde. Am 
Weihnachtsabend wurde dem Schuster der Knabe geboren, 
er — der Vater — ist ein der Galeere entsprungener 
Mörder, sie — die Mutter — hat ihrem Gatten seinerzeit 
gebeichtet, daß sie dem Kloster entlaufen ist. So weiß nun 
der Schuster, daß sein Sohn der Antichrist ist, den zu töten 
ihn sein Glaubenseifer gebietet. Aber die Mutter stellt 
sich schützend vor ihr Kind, und als sie sich keinen andern 
Ausweg mehr weiß, schreckt sie auch nicht zurück, ihren 
Gatten den Häschern preiszugeben. Dem Schuster gelingt 
es, dem Gefängnis zu entkommen, und sobald er wieder 
frei ist, nimmt er die Suche nach Mutter und Kind auf. 
Da ereilt ihn sein Schicksal: Einlaß suchend in die Kammer, 
wo sein Sohn liegt, gerät er in Streit mit einem, der ihn 
aufhalten will, und die Kugel eines Flurschützen streckt 
ihn nieder. In der Leiche erkennt die heimkehrende Mutter 
ihren Gatten,- Reue erfaßt sie und Widerwillen gegen den 
Knaben, dem sie die Schuld am Tode des Mannes zu» 
schreibt. Sie kehrt zurück ins Kloster und überläßt den 
Knaben der Pflege fremder Menschen. Dieser wächst 
heran, wird klug und schön. 
Am Schluß der Erzählung erfahren wir, daß er an den 
Vorsteher des Priesterseminars in Palermo ein Schreiben 
mit der Bitte, sich ganz dem Dienste der heiligen Kirche 
zu widmen, gerichtet hat. Unterzeichnet ist dieser Brief 
mit dem Namen: Josef Cagliostro. Es ist von einer sehr 
feinen Ironie, wenn Perutz einen Abbate zu dem Knaben 
sagen läßt: »Ich sehe dein Leben von nun an still und 
friedlich verlaufen und du wirst das wahre Glück finden, 
indem du deine Gemeinde auf den Weg des Guten führst, 
ein Pastor animae, ein Hirt der Seelen, auf daß sie erkennen 
die Wohltaten Gottes, der da thronet und regiert in Ewig» 
keit. Amen.« 
Das natürliche Erzählertalent des Leo Perutz, dem wir 
so fesselnde Romane wie »Die dritte Kugel« und den 
»Marquis von Bolibar« verdanken, bewährt sich auch dies» 
mal in glänzender Weise. Perutz besitzt die Fähigkeit, 
Menschen und Kulturen entlegener Epochen zu blutvollem 
Leben zu erwecken, ohne die Krücken des Historikers zu 
gebrauchen, nur seiner dichterischen Intuition vertrauend. 
Ein Callot oder ein Salvator Rosa wäre der beste Illu 
strator des Büchleins gewesen,- Axel Leskoschek, 
der die Erzählung mit Zeichnungen begleitet, ist dem 
Dichter leider nicht kongenial. 
Das zweite Werk, das wir von der übrigen Belletristik 
des Rikola »Verlages absondern wollen, sind »Die Taten 
des Herakles« von Felix Braun, ein dickleibiger, 
etwas langatmiger historischer Roman, der im ersten nach 
christlichen Jahrhundert spielt und von den Schicksalen 
eines sich endlich zum Christentum bekehrenden Römer 
jünglings erzählt. Der weltgeschichtliche Hintergrund ist 
viel bedeutsamer als die Personen, die vor ihm spielen. 
Zart empfundene Schilderungen von Naturstimmungen 
und Landschaften nehmen einen breiten Raum ein und 
beweisen, daß Braun ein Lyriker, aber kein Romancier ist.
	        
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