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Paul Klee
vordem geschaffen hat. Aller Schmerz, alle Sehnsucht,
alle Begeisterung ist gefaßt in das Leuchten eines un-
irdischen Lichtes, dessen Glanz sich an der seelischen
Erregtheit der Wesen und an der mystischen Belebt-
heit der düsteren Landschaften entzündet. Der Pas-
sivität des mystischen Menschen entsprechend, wird
ihm alles leibhafte Leben und alle Innerlichkeit, so
weit sich diese noch mit Problemen des Zeitlichen ab®
gibt, zu Trauer und Leid. Verkrüppelte, höckerige
Menschen, aus deren großen, gütigen Augen Dulden
und Verzicht sprechen, weite Ebenen im Schatten der
niedergesunkenen Nacht, ferne Berge dunkel gegen
das letzte Licht eines bleichen Sonnenuntergangs ge
stellt: überall Symbole eines erlöschenden, resignierten
Lebens, das sein Übermaß an Leiden geduldig und
ergeben zu Ende trägt. Wohl das schönste Blatt dieser
Mappe, vielleicht eine der ergreifendsten Schöpfungen
der neuen Graphik überhaupt, trägt den Titel: Alles
ist eitel. In unendliche Fernen erstrecht sich eine ver
ödete Landschaft von einer blutig düsteren Sonne
beschienen. Ein verwildeter, modernder Wald umgibt
einen moorigen See, dessen Gifthauch die Luft zu
Die Waldbeere (Aquarell)
verpesten scheint. Ganz vorne aber, am Ufer zwischen
verwesten Pflanzen liegt im undeutlichen, fluores
zierenden Licht ein faulender, von Würmern halb
zerfressener Leichnam, das Symbol des unentrinn
baren menschlichen Schicksals. Eine erschütternde
Hoffnungslosigkeit erfüllt dieses, aus den tiefsten
Gründen eines leidenden Herzens herausgerissene
Bild. Die übrigen Lithographien der Mappe stehen
an Bedeutung diesem Blatte nur wenig nach. Das
Aufflackern einer leidvollen Sinnlichkeit, die wie vieles
in der Kunst Ehrlichs dem jüdischen Rassegefühl zu
entspringen scheint, erfüllt die Körper der Susanne
und der Königin von Saba. Ingrimmige Verzückung
trägt die Gestalten der Propheten des alten Testa
mentes, in schmerzensreicher Verklärung aber über
strahlt das Antlitz des Menschensohnes die grobsinn
lichen Fleischerphysiognomien seiner Peiniger. Wahr
lich, in diesem Werke ist kein Strich, kein Schatten
auf Effekt gestellt, kein Linienzug, keine Bewegung,
die nicht dem Schlag eines gläubigen Herzens — weil
es so sein mußte — entsprangen.
Guido Kaschnitz.