Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Paul Klee 
vordem geschaffen hat. Aller Schmerz, alle Sehnsucht, 
alle Begeisterung ist gefaßt in das Leuchten eines un- 
irdischen Lichtes, dessen Glanz sich an der seelischen 
Erregtheit der Wesen und an der mystischen Belebt- 
heit der düsteren Landschaften entzündet. Der Pas- 
sivität des mystischen Menschen entsprechend, wird 
ihm alles leibhafte Leben und alle Innerlichkeit, so 
weit sich diese noch mit Problemen des Zeitlichen ab® 
gibt, zu Trauer und Leid. Verkrüppelte, höckerige 
Menschen, aus deren großen, gütigen Augen Dulden 
und Verzicht sprechen, weite Ebenen im Schatten der 
niedergesunkenen Nacht, ferne Berge dunkel gegen 
das letzte Licht eines bleichen Sonnenuntergangs ge 
stellt: überall Symbole eines erlöschenden, resignierten 
Lebens, das sein Übermaß an Leiden geduldig und 
ergeben zu Ende trägt. Wohl das schönste Blatt dieser 
Mappe, vielleicht eine der ergreifendsten Schöpfungen 
der neuen Graphik überhaupt, trägt den Titel: Alles 
ist eitel. In unendliche Fernen erstrecht sich eine ver 
ödete Landschaft von einer blutig düsteren Sonne 
beschienen. Ein verwildeter, modernder Wald umgibt 
einen moorigen See, dessen Gifthauch die Luft zu 
Die Waldbeere (Aquarell) 
verpesten scheint. Ganz vorne aber, am Ufer zwischen 
verwesten Pflanzen liegt im undeutlichen, fluores 
zierenden Licht ein faulender, von Würmern halb 
zerfressener Leichnam, das Symbol des unentrinn 
baren menschlichen Schicksals. Eine erschütternde 
Hoffnungslosigkeit erfüllt dieses, aus den tiefsten 
Gründen eines leidenden Herzens herausgerissene 
Bild. Die übrigen Lithographien der Mappe stehen 
an Bedeutung diesem Blatte nur wenig nach. Das 
Aufflackern einer leidvollen Sinnlichkeit, die wie vieles 
in der Kunst Ehrlichs dem jüdischen Rassegefühl zu 
entspringen scheint, erfüllt die Körper der Susanne 
und der Königin von Saba. Ingrimmige Verzückung 
trägt die Gestalten der Propheten des alten Testa 
mentes, in schmerzensreicher Verklärung aber über 
strahlt das Antlitz des Menschensohnes die grobsinn 
lichen Fleischerphysiognomien seiner Peiniger. Wahr 
lich, in diesem Werke ist kein Strich, kein Schatten 
auf Effekt gestellt, kein Linienzug, keine Bewegung, 
die nicht dem Schlag eines gläubigen Herzens — weil 
es so sein mußte — entsprangen. 
Guido Kaschnitz.
	        
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