Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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II. 
Seit dem siebenten Jahrhundert begann unter der Regierung der Chou die innere Zersetzung 
des chinesischen Reiches. Wie unter den beiden vorausgegangenen Dynastien Hia und Chang 
wurde die kaiserliche Zentralgewalt immer mehr zum Schatten vor der Selbständigkeit der Landes 
fürsten, gegen die sich, das Beispiel ihrer Untreue nachahmend, die großen Vasallen erhoben, 
denen schließlich auch die Kleinen den Gehorsam kündigten,- während barbarische Nomaden* 
Stämme die Grenzen bedrohten, löste sich der Feudalstaat in das Chaos seiner Atome auf. Wenn 
aber auch der Kaiser seine realpolitische Macht verlor, seine Würde als Haupt des geistigen 
Lebens blieb unangetastet. Er war der Sohn des allumfassenden Himmelsgottes Schangti, dem 
er allein nach dem Gesetz des Ahnenkultes als Pontifex Maximus das Staatsopfer darbringen 
konnte. Er war von seinem göttlichen Ahnherrn mit der religiösen und politischen Führung des 
von dem Weltgott auserwählten chinesischen Volkes betraut, welches Schangti als seinen National* 
gott verehrte. Und er hatte als Stellvertreter des Himmelsherrn auf der Erde das Nationalgesetz, 
das Tao, welches, wie das brahmanische dharma, als Abbild des kosmischen Gesetzes in der 
Menschenwelt betrachtet wurde, als das allgemeine Menschheitsgesetz über die ganze Erde zu 
verbreiten. 
Das auseinanderfallende Reich von neuem auf der Grundlage seines Tao zu einigen, war die 
Mission Kungtses, der ein Jahr nach der Schlacht bei Platää starb. Eine fünffache sozialpolitische 
Bindung schrieb dieses Tao vor: die des Dieners an den Herrn, des Freundes an den Freund, der 
Gattin an den Gatten, der Kinder an die Eltern und der Untertanen an den Kaiser. Dazu aber 
kommt eigentlich noch eine sechste, weltpolitische Bindung, die aller Völker der Erde an die 
chinesische Nation ,■ denn an imperialistischem Machtwillen stand dieselbe keinem derVölker Asiens, 
dieser Heimat des Weltreichgedankens, nach. Um den Kaiserlichen Zentralstaat gruppieren sich 
die Lehnsstaaten, darüber hinaus verlieren sich in unabsehbarer Ferne die Barbarenstaaten, die zwar 
ihr home rule besitzen, deren Rechtsgrundsätze aber vom Lohn des Himmels emanieren und 
überwacht werden. Denn es soll nur Eine Herde und Ein Hirt, nur Ein Weltstaat und Eine 
Weltreligion sein. In dreifacher Tätigkeit hat Kungtse für die Wiederbelebung der von Schangti 
geoffenbarten nationalimperialistischen Religion des Tao gewirkt. Als Minister des Fürsten von Lu 
am Kaiserkanal, dessen Land er so vorbildlich reformieren wollte, daß alle Einzelstaaten durch 
sein Beispiel zur Nachahmung hingerissen würden. Dann kodifizierte er sammelnd und sichtend 
als der Esra Chinas die fünf heiligen Schriften der Nation, zu denen später noch als kanonische 
Ergänzung die vier klassischen Bücher aus seiner Schule kamen. Und endlich gründete er eine 
Schule, welche die lebendige Trägerin des historischen religiös*politischen Nationalbewußtseins 
werden sollte, wie er es für sich selbst wieder gefunden hatte. 
Kungtse, der selbst dem Kaiserlichen Geschlechte der gestürzten Chang entstammte, ist der 
Philosoph der historischen Legitimität. Sein sozialpolitisches Ideal war der feudalaristokratische 
auf dem Familienprinzip beruhende Lehnsstaat, wie ihn der Gründer der Choudynastie, der von 
Kung so bewunderte Kaiser Wu Wang und sein noch bedeutenderer Bruder, Fürst Chou von Lu, 
nach dem Vorbild der beiden ersten Dynastien wieder hergestellt hatten. Ein messianischer 
Glaube an den kommenden kaiserlichen Restaurator Imperii erfüllte ihn, als dessen Verkündiger 
er unter der Inspiration der Idealkaiser der Vergangenheit sein Werk der nationalen Renaissance 
schuf. „Wenn er in seine Schüssel sah, erblickte er yau und wenn er an die Wand sah, Chun." 
Die Erneuerung des Staates aber konnte in Kungs Augen nur von der Wiedergeburt der aristo* 
kratischen Herrenrasse kommen, die in dem Tao ihr eigenes Lebensgesetz ausgesprochen hatte. 
Er wendet sich nicht an das Volk sondern an Fürsten und Adel. Der Chüntsi, sein Menschen* 
ideal, der dem Gentleman, dem honnete homme des XVII. Jahrhunderts und dem Kalos Kaga* 
thos der griechischen Aristokratien entspricht, ist der in der Religiosität des aktiven Tao erzogene
	        
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