Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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vermag. So Willibald über die Futuristen. Was an 
übrigen Gründen angeführt wird, dürfte selbst Genüg® 
same hungrig lassen. Immerhin sei hier angehakt. Be» 
sonders ärgert den Herrn Professor natürlich die Regel® 
losigkeit der neuen Musik. »Schlagt die Schulmeisterei 
mit ihrem Regelkram tot und schreibt, wie Euch der Geist 
treibt« sei das einzige Gezetz, das der Futurist anerkennt. 
Dadurch sei eine bewußte Lösung von dem »organisch 
Gewordenen« bedingt. Nur dürfte selbst akademisch 
Gebildeten bekannt sein, daß jeder große Mensch sich in 
seinem Schaffen, soweit es irgendwie stark ist, vom Geist 
treiben läßt. Dies leugnen mag nur wer keinen hat. Und 
daß Herr Nagel steh vom Ungeist treiben läßt, beweist 
noch nichts dagegen. Organisch werden, Herr Professor 
Dr., kann nur ein Kunstwerk, nie dis daraus abgeleitete 
Regel. Im übrigen ist hier organisch nichts als eine plump 
diplomatische Umschreibung für traditionell. Das vor® 
geblich Anorganische ärgert den Pseudokritizisten weniger 
denn das Antitraditionelle. Sonst wäre er nicht so anor® 
ganisch, sich selbst in gar possierlicher Weise in seinem 
Artikel zu widersprechen. Während nämlich das Gebaren 
der Futuristen zunächst ihm nur schrullig lächerlich, be® 
wußt, modetöricht, unlauter und spekulativ vorkommt, 
packt ihn hundert Zeilen weiter die Angst vor der Bla» 
mage und er begütigt: »den Ernst ihres Wollens mag 
und darf man wohl <!> den Futuristen nicht absprechen.« 
Die Resultate dieser »jeder künstlerischen Vorstellungs» 
und Denkweise widersprechenden Anschauungen« seien 
Gestaltungen, denen der herkömmliche Formbegriff ebenso 
abgehe, wie ein normaler Vorstellungskraft faßbarer In® 
halt. Sind unsre Anschauungen wirklich jeder künstle® 
rischen Denkweise diametral, dann, Herr Nagel, ziehe ich 
meine Konsequenzen und nehme an, Sie betrachten uns 
nicht als Künstler. Aber nicht einmal darin sind Sie ver® 
läßlich. Sie reden nämlich von uns als Künstlern. Daß 
der herkömmliche Formbegriff jedem (jedem .. !> wahren 
Kunstwerk fehlt, könnte selbst Nägeln faßbar sein. »Wer 
gegebenen Gesetzen folgt, hört, auf, ein Schaffender zu 
sein«, sagt Busoni. Und in der Tat, der Norm, deren 
Typus Nagel repräsentiert, faßbar zu sein, ergeizen wir 
mit nichten! 
Schließlich behauptet der bald Erledigte, die Neuest» 
töner seien dazu gekommen, dem Kapellmeister anheim® 
zustellen, wie und mit welchen Instrumenten er sein 
Orchesterwerk besetzen v^olle. Ob ein derartiger Fall 
vorliegt, weiß ich nicht. Zumindest aber ist das nirgend» 
wie typisch für unsre Musik. 
Am groteskesten jedoch wirkt das ethische Schmalz, 
mit dem der also Vernagelte seinen Expektorationen 
Nachdruck verleiht. Es ist immer komisch, wenn eine 
Kategorie, die den Geist schlechthin leugnet, aufs Ethische 
Gewicht legt. Was nun dieser angebliche Mangel mit 
Dissonanzistik und Aformalität zu tun hat, ahne ich nicht. 
Und die Tatsache, das unsre Generation, sei es nun 
Däubler, Schmidt »Rottluff oder Schönberg, gerade aufs 
Menschliche, d. h. aufs zutiefst Ethische, sich konzentriert 
wie noch nie eine zuvor, erledigt wohl diese Redereien 
von selbst. 
Womit auch der Nagel nun sich überlassen sei. 
Hans Heinz Stuckenschmidt. 
Eine Münchner »Kritik«. 
R.Braungart, der Unvermeidliche, entdeckte jüngst im 
ebenerdigen Hauptsaal der Galerie Caspari — »ein idealer 
Rahmen für Vorträge und Tanzunterhaltung«, bemerkt 
der Kritiker, anscheinend schon ganz im Banne des nahen 
Münchner Faschings — also er entdeckte in diesem Raum, 
der ihm wahrscheinlich als Schauplatz expressionistischer 
Kunstveranstaltungen in übler Erinnerung ist — er ent» 
deckte: Antiquitäten. 
»Vielleicht ist's nur ein Provisorium,« beginnt erfrisch® 
weg zu meditieren. »Mag sein. Aber das Definitivum 
dürfte früher oder später doch folgen: Das liegt so in der 
»Konjunktur«. Die ganz moderne Kunst scheint eben all» 
mählich nicht mehr recht zu ziehen. Da orientiert man sich 
rechtzeitig neu. (Hier entstünde nun für Caspari im be® 
sonderen und für die Kunsthändler im allgemeinen die 
Frage, wer oder was Herrn Braungart berechtigt, den 
Kunsthändler jeder Gesinnungsschäbigkeit für fähig zu 
halten.) 
»Oder ist's am Ende gar nicht so?« grübelt der Kritiker 
weiter. »Nun ja, man wird die Sache nicht wahr haben 
wollen.« »Aber was kann uns hindern, trotzdem daran 
zu glauben?« fragt er mit kühner Herausforderung und 
fährt dann munter — nicht ohne eine gewisse Selbst» 
Zufriedenheit — fort: »Ist doch nichts natürlicher als diese 
Entwicklung, die jeder Nichthypnotisierte längst voraus® 
gesehen hat.« Warum? »Denn,« lautet die Begründung, 
»auf die Dauer vertragen auch die abgestumpftesten Nerven 
den Kannibalismus der Expressionisten nicht.« Was Sie 
nicht alles sagen, ist's denn wirklich so schlimm? Der also 
Zweifelnde bekommt von Braungart den Rat, sich in 
einem der oberen Zimmer die Bilder und Zeichnungen 
von Kokoschka anzusehen. »Man müßte,« seufzt der 
Kritiker freilich, »vor diesen Arbeiten all die sattsam be® 
kannten Gegenargumente wiederholen, die schon hundert» 
und tausendmal gegen solche genialisch sich geberdende 
Impotenz vorgebracht werden wird.« Aber er resigniert: 
».,. was nützte es? Die Gegenpartei ist nicht zu belehren 
und wir sind nicht blind und lassen uns keinen blauen 
Dunst vormachen, auch nicht von solchen höchst frag» 
würdigen ,Klassikern'. Am besten ist es, man läßt diesen 
Brand, der ja doch nur ein Strohfeuer gewesen ist, in sich 
ausbrennen. Es eilt auch gar nicht so sehr. Wir können 
warten.« 
Und wir — wir müssen warten, brennende Scham im 
Gesicht — müssen warten, bis endlich die Abonnenten 
aller »Münchner Zeitungen« deutscher Zunge diese hahne® 
büchenen Exzesse einer von Gott und Geist verlassenen 
Subalternität unerträglich finden werden. (Gott gebe uns 
ein langes Leben!) L. Z.
	        
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