Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Der Stier 
Alfred Kubin: AUS MEINEM LEBEN 
Ich wurde am 10. April 1877 in Leitmeritz, einer kleinen Stadt Nordböhmens, geboren. Ich war 
ein sehr wildes Kind und meine Neigung, zu bekannten und wohl auch fremden Nachbarn durch 
zubrennen, verursachten meiner Mutter — nach Eruierung auch mir —< viel Schmerz. Als ich mein 
fünftes Jahr anfing, wurde mein Vater nach Zell am See versetzt. Dieses kleine Hochgebirgsdorf 
bildete den eigentlichen Hauptschauplatz meiner Kinderzeit. Daß sie nicht allzu schön war, dafür 
sorgte schon die Schule. Mir war, ist und bleibt nichts so verhaßt als äußerer Zwang. 
Es kam die Zeit, wo ich mit Stift und Farben ungezählte Papierblätter füllte. — Ich hatte von 
jeher einen eigentümlichen Hang zur Übertreibung und zur Phantastik. Die Kuh mit vier Hörnern 
war mir allemal lieber wie die mit zwei, die man damals in Zell am See an jeder Straßenecke sehen 
konnte. Und ganz entsprechend waren auch meine kindlichen Zeichnungen beschaffen. Sie wimmelten 
von Zauberern, komischem und schrecklichem Viehzeug, zeigten Landschaften ganz aus Feuer, kurz, 
der ganze spätere Kubin war schon im Keime darin enthalten. 
Ich war zehn Jahre alt als meine Mutter durch den Tod von der Schwindsucht erlöst wurde. Sie 
war der erste Mensch, den ich sterben sah. Ich war zugegen als sie die letzte Ölung bekam, sie nahm 
nachher noch Abschied von meinem Vater und mir. Dieser Todeskampf hat sich mir fest eingeprägt 
und wirkte stark auf mich,- weit stärker aber erschrak ich und bangte mir vor der maßlosen Ver^ 
zweiflung meines Vaters. 
Nach Ablauf des Trauerjahres heiratete mein Vater wieder und zwar die Schwester meiner 
Mutter. Über diese Zeit bis zu meinem Eintritt ins Salzburger Gymnasium kann ich in dieser 
autobiographischen Skizze ruhig hinweggehen. Nur einen sehr wesentlichen Punkt muß ich hier 
streifen. Ich war nämlich gerade 11 l h Jahre alt, als ich durch eine ältere Frau in sexuelle Spielereien 
verwickelt wurde, was mich maßlos aufregte und bis in meine frühe Manneszeit seine Schatten warf. 
Eines schönen Septembertages wurde ich in Salzburg eingerichtet, um die dortige Lateinschule 
zu besuchen. Im ersten Jahre ging es da auch dank meinem vorzüglichen Gedächtnis ausgezeichnet, 
aber im zweiten schon versagte ich vollständig. 
Als bereits nach Ablauf eines Jahres meine Stiefmutter im Wochenbett starb, und ich bald darauf 
als entlassener Gymnasiast noch volksschulpflichtig wieder in das Elend nach Haus kam, da durch 
lebte ich zum erstenmal eine tatsächliche Höllenperiode. Jetzt, wo ich bei keinem Menschen Zuflucht 
fand, wo Christus und alle Heiligen taub blieben, wurde ich vollständig verstockt, ließ mich mit
	        
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