Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

nicht existierende Traumwesen ein und es gelang mir aus einer bestimmten, gleichsam »traum- 
wachen« Geisteseinstellung Kompositionen in diesem Sinne auszuführen. Vielleicht wird meine 
große Traumserie, von welcher ich nur einige Blätter abgab, später noch einmal veröffentlicht 
werden. 
Neben diesem Hauptwerk ließ ich die Illustration nicht verkümmern. Für meinen Hauptverleger, 
Georg Müller, füllte ich einige interessante Bände mit Zeichnungen. Durch die Ungunst der jetzigen 
Verhältnisse können sie zum Teil erst später erscheinen. Unter diesen Werken nenne ich hier 
besonders »Les Diaboliques« von Barbey d'Aurevilly, wofür ich Vollbilder und Vignetten machte, 
sowie eine sehr leidenschaftlich geschriebene und spannende Erzählung aus dem Katalonischen, 
»Josaphat«, die mich zu zahlreichen Bildern anregte. Das schönste Poewerk wurde durch zwei 
weitere Bände vervollständigt, und von Hauff kam ein zweiter Band heraus, »Phantasien im Bremer 
Ratskeller«. Die am reichsten illustrierte Arbeit dieser Art dürften die 60 Zeichnungen zum 
»Doppelgänger« von Dostojewsky sein, die R. Piper verlegte und sehr schön ausstatten ließ. Für 
J. B. Neumann, der ein Graphisches Kabinett in Berlin auftat, zeichnete ich dann noch eine kleine 
Serie von Lithographien, wie »Die sieben Todsünden«. Dann machte F. Marc, neben Kandinsky 
Mitbegründer des »Blauen Reiter«, den einladenden Vorschlag zu einer modernen repräsentativen 
Bibelausgabe. Jeder konnte sich sein Kapitel aussuchen. Ich tat sogleich mit und übernahm den 
Propheten Daniel. Er liegt seit 1913 vollendet in meinem Schrank und soll jetzt bei Georg Müller 
verlegt werden. 
Ich kann über die neue Kunst im allgemeinen nur sagen, daß sie indirekt außerordentlich auf 
mich wirkte. Je abstrakter, abgekürzter oder roher aber die Formen wurden, desto rascher über 
sättigten sie mich auch. Bei meinen eigenen Arbeiten hätte ich es nicht übers Herz gebracht, die 
intimen, organisierenden Feinheiten aufzugeben, deren Sichtbarmachung mich zu viel Anstren 
gungen gekostet hatte, als daß ich das Erreichte nochmals an Experimenten hätte aufs Spiel setzen 
wollen. Meine Kunstbegeisterung ist aller Grade fähig und wertet den gewaltig formenden 
Geist natürlich anders als den flüchtig huschenden Augenblicksreiz oder ein primitives Gebilde. 
Ich liebe die alten, die mittleren und die neuesten Meister und auch das nur Halbgelungene oder 
Verpfuschte erregt meine Teilnahme, wenn ich sehe, daß wahres Streben hier tätig war. 
Sehe ich einen so außerordentlichen Ernst jahrelang am Werk, wie z. B. bei Paul Klee oder 
Franz Marc, Feininger oder Picasso, so werde ich midi bemühen, zu verstehen und einzudringen 
und nicht bedauernd oder gar höhnend abseits stehen. Erkennen und sehen wollen ist immer die 
Vorstufe zum wirklichen Erkennen und Sehen. Durch Tausch, Schenkung und Kauf brachte ich 
auch selbst eine vielseitige Sammlung alter und neuer graphischer Originale und Drucke zusammen, 
welche vereint in meiner Bibliothek mich über viele kritische Stunden hinwegbrachten und die mir 
fast täglich neue Freuden spendeten. 
Im Januar 1914 entschloß ich mich nochmals zu einer Fahrt nach Paris, um auch die Werke der 
dortigen Vertreter der neuen Malerei an der Quelle zu sehen. In Paris merkte ich dann leider 
am ersten Tag schon, daß meine Nerven dem wütenden Wechsel von Sinneseindrücken nicht mehr 
ganz gut Stand hielten, ich war ängstlich, niedergeschlagen, erregt, und der ganze Aufenthalt wäre 
wohl verdorben gewesen, wäre nicht Ernst Sonderegger, an dem ich eine Empfehlung hatte, als 
rettender Engel gerade im richtigen Augenblick dagestanden. 
Für mein graphisches Interesse bot sich einiges,- einen Illustrator vom Range Max Slevogts 
haben die heutigen Franzosen nicht. Die ausgesprochene modernste Kunst trat mir nicht so stark 
entgegen, wie ich vermutet hatte. Ich sah aus Zeitungsfetzen, Holzteilen und Notenpapier geschickt 
zusammengeklebte Arbeiten von Picasso, die mich als jeden gewohnten Rahmen sprengend, in 
Erstaunen setzten.
	        
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