Volltext: Die weissen Blätter (3(1916),1)

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Gfassen 
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der Pulsschlag der Nationen ein anderer sals, abseits von jenen, die nodi hin» und 
geworden ist,- daß, wo solche früher unter» 
gingen, sie sich heute wieder aufrichten, 
genesen, sich erneuern können*),- daß es 
in dem alten verjährten Sinn eine Deka» 
denz der Völker gar nicht mehr gibt, und 
daß alles Unvernunft ist, was sie von 
Germanen contra Romanen, Romanen 
contra Germanen hin und herüber rufen, 
daß die Gefahr ganz anders heißt: Ger» 
manen ohne Romanen, Romanen ohne 
Germanen, weil ihnen außerhalb ihrer Ge» 
meinschaft gleicherweise keine aufsteigende 
Linie mehr bevorsteht, sondern sie gleicher» 
weise von der eigenen Erfüllung sich ent» 
fernen müssen. 
Du weißt, wie ungehört ich diese künftige 
Binsenwahrheit seit elf Jahren in die Welt 
hinausrufe: Deutschland vernichten hieße 
sich selbst vernichten,- denn mit ihm »fiele 
die Welt«, Es ist tausendfach wahr. Aber 
nur an den gesunden Wesenselementen 
des »dekadenten« Frankreich wird das »ge 
sunde« Deutschland mit der gefährlidien 
und entstellenden Beule des Alldeutsch» 
tums mitten in dem göttlichen Antlitz ge» 
nesen, 
II. 
Es ist nicht wie zu Anfang, da mir die 
Gefallenen so oft den besseren Teil vor» 
weg zu nehmen schienen. Die jetzt noch 
fallen, beklage ich. Wer den Krieg bis 
hierher mit erlebte, fängt langsam an, den 
Kopf aufzurichten, ob der Himmel sich 
noch auf keiner Seite lichtet. Schon ringt 
er um eine Riditschnur inmitten des Wirr» 
*> Burkhards Worte aus seiner »Kultur der 
Renaissance«, die ich schon so lange zitiere, sind 
nie so beherzigenswert gewesen: »Das scheinbar 
kränkste Volk kann der Gesundheit nahe sein, und 
ein scheinbar gesundes Volk kann einen mächtig 
entwickelten Todeskeim in sich bergen, den erst die 
Gefahr an den Tag bringt.« 
herrennen mit dem Geschrei, wer ihn 
entfesselte. Auch ein heraufziehendes Ge» 
witter ist bis zuletzt etwas Ungewisses. 
Der Wind kann die Wolken auseinander 
treiben,- das Gewitter kann vorüberziehen, 
Doch bricht es los, so darf mit Fug be» 
hauptet werden, daß es kommen mußte, 
und ebenso wird es nicht einen, sondern 
viele Gründe dafür geben, daß es sich 
entlud. Und ebenso, denke ich mir, werden 
für dieNachwelt dieUrbeber dieses Krieges 
vor dessen vielvcrzweigteUrsachen zurüdc» 
treten, und diese wiederum werden weiter 
zurüdereichen, als Cromwell und der 30» 
jährige Krieg, Peter der Große und die 
Borgias. Und seinen unzähligen Ursachen 
entsprechen unzählige Gesichtspunkte. Von 
diesem Gesichtspunkte aus gesehen war 
er eminent vermeidlich, von jenem unver» 
meidlich,- betrachtet ihn von dieser Wolke 
aus, und er war so vermeidlich! noch höher, 
und er mußte sich noch einmal (zum letzten 
Mal!) unweigerlich ergeben. 
Denn alle Biologie in Ehren: aber die» 
jenigen (und sie sind noch zahlreich), welche 
da wirklich vermeinen, solche Kriege, die 
nur deshalb einen solchen Haß auslösen, 
weil sie Bruderkriege geworden sind, solche 
Kriege seien an sich etwas zu Bejahendes, 
fernerhin Notwendiges, und die Zustände, 
das Chaos, das sie schaffen, die seien in 
der Ordnung, eine Institution gleichsam, 
die ihre Richtigkeit habe und in der Natur 
der Dinge Hege wie ein Erdbeben oder 
ein Orkan, die Völker selbst hiermit nur 
dem blinden Element oder der reißenden 
Tierwelt vergleichbar, die willenlos ist — 
diese Leute sollten, falls sie weiterhin in 
der Welt entscheiden dürfen, doch we» 
nigstens so viel Logik aufbringen, daß sie 
das Straßburger Münster wie den Kölner 
Dom, St. Pauls Cathedral wie die Peters»
	        
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