100
Das Wort und das Bild.
*
15. VI. Ich weiß nicht, ob wir trotz all unserer Anstrengungen über
Wilde und Baudelaire hinauskommen werden; ob wir nicht doch
nur Romantiker bleiben. Es gibt wohl noch andere Wege, das
Wunder zu erreichen, auch andere Wege des Widerspruches —:
die Askese zum Beispiel, die Kirche. Sind diese Wege aber nicht
völlig verbaut? Es ist zu befürchten, daß immer nur unsere Irr-
tümer neu sind.
*
Hülsenbeck kommt, um auf der Maschine seine neuesten Verse
abzuschreiben. Bei jeder zweiten Vokabel wendet er den Kopf
und sagt: ,Oder ist das etwa von Dir?' Ich schlage scherzhaft
vor, jeder solle ein alphabetisches Verzeichnis seiner geprägtesten
Sternbilder und Satzteile anfertigen, damit das Produzieren un
gestört von statten gehe; denn auch ich sitze, fremde Vokabeln
und Assoziationen abwehrend, auf der Fensterbank, kritzle und
schaue dem Schreiner zu, der unten im Hof mit seinen Särgen
hantiert. Wenn man genau sein wollte: zwei Drittel der wunder
bar klagenden Worte, denen kein Menschengemüt widerstehen
mag, stammen aus uralten Zaubertexten. Die Verwendung von
,Siegeln', von magisch erfüllten fliegenden Worten und Klang
figuren kennzeichnet unsere gemeinsame Art zu dichten. Solcher
lei Wortbilder, wenn sie gelungen sind, graben sich unwider
stehlich und mit hypnotischer Macht dem Gedächtnis ein, und
ebenso unwiderstehlich und reibungslos tauchen sie aus dem Ge
dächtnisse wieder auf. Ich erlebe es häufig, daß Leute, die un
vorbereitet unsere Abende besuchten, von einem einzelnen Worte
oder Satzglied derart beeindruckt wurden, daß es sie wochenlang
nicht mehr verließ. Gerade bei lässigen oder apathischen Men
schen, deren Widerstand gering ist, entwickelt sich diese Art
Plage. Hülsenbecks Götzengebete und einzelne Kapitel meines
Romans wirken so.