Schriftsteller M erhielt Ende November 1Sl4 folgenden Brief aus Lüttich:
Ich kenne Sie nicht persönlich, aber Ihre Werke sehr genau. Gestern Nacht
habe ich eine jener Handlungen begangen, die so schwer sind, daß man von ihnen
zermalmt wird, sobald man versucht, sie von sich abzuwälzen. Man muß sie
selber tragen. Ich will mich also nicht von ihr befreien, sondern sie Ihnen nur
erzählen und ich habe Sie gewählt, weil ich, der nur ein Durchschnittsmensch
mit geistigen Interessen ist, gerade bei Ihnen empfunden habe, daß ein Schrift
steller, der ernst und menschlich ist, für uns alle denkt, wägt und urteilt, wenn
ich religiös wäre, ich meine mit tiefer Ueberzeugung religiös, würde ich mich
an einen Priester gewandt und ihn um die Absolution gebeten haben.
Erinnern Sie sich an Ihre Erzählung „Barmherzigkeit"? Ein Arzt, der zu
gleich mitleidig und entschlossen fühlt, quält sich mit der schweren Frage, ob er einen
anderen Menschen, der ihm näher als alles auf der Welt steht, und der durch ein
unheilbares Leiden zu langem, häßlichen Siechtum verurteilt ist, durch eine wohl
tätige Dosis befreien soll. In einer langen Nacht entschließt er sich dazu, aber
als er am nächsten Morgen vor den Rranken tritt, ist ihm unerwartet der Tod
zuvorgekommen. Sie lassen also die letzte Entscheidung, die Tat, doch dahingestellt
sein, undohne diese Zurückhaltung wäre Ihre Erzählung nicht so stark, wie steift.
Aber ich, ich habe sie durchkämpfen müssen, die Wirklichkeit, der Rrieg hat
mich dazu gezwungen.
Ansang August machte ich mein Notexamen, denn es fehlte mir nur noch
das letzte Semester, dann stellte ich mich. Ich stamme aus einer Familie von
Aerzten, mein Vater ist der Berliner Chirurg. Als ich ein anderes Studium
als sein eigenes ergriff, hielt er darauf, daß ich mich wenigstens als Rranken-
psteger ausbilden ließ, und so kam ich Mitte August als Sanitätssoldat nach
Belgien, durch Zufall in das Lazarett des Oberstabsarztes Schneider.
Ich kannte ihn von der Rlinik meines Vaters her, bei dem er zu arbeiten
pflegte. Er ist ein großer schwerer Mann, der mir in Berlin nicht sympathisch
gewesen war und zwar, weil ich ihn einmal bei uns hatte — essen sehn. Er
häufte sich damals den Teller an, wie man es nicht einmal im Wirtshaus tut,
wo die Schüssel vielleicht nur einmal gereicht wird, geschweige denn bei einem
Diner. Breit dasitzend kaute er mir vollen Backen und erörterte zugleich die
innere Politik und die Behandlung, die man den Demokraten zuteil werden
lassen müsse, in einer Art, die mir unerträglich schien.
Aber an diesem massiven Rörper saßen zwei Hände, die mein Vater schätzte
und die jetzt unsagbar viel Gutes vollbrachten. Er hatte mich kühl begrüßt
und behandelte mich zu meiner Genugtuung durchaus als einen unter seinen
vielen Untergebenen. Erst als er mich willig und brauchbar fand, begann er mich
bei besonderen Aufgaben vorzuziehen. So wurde ich in eine der grausamsten
Tragödien hineingezogen, die dieser Rrieg über Menschen brachte, vielleicht ist
es sogar die grausamste, die äußerste von allen.
Eines Abends, als unser Dienst getan war und nur die Nachtwache im
großen Saal blieb, hielt er mich zurück und sagte:
„Es ist mir eine Einlieferung angekündigt, die nicht am Tage stattfinden