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einer ist gestorben von allen, die damals tragisch lebten.
Der Messias nicht, der zum Himmel fuhr, Maria nicht,
der er den Sessel bereitete, nicht Satan und nicht der
Erzengel. Nicht allein ist Ahasverus in die Ewigkeit zu
wandern bestimmt, auch Pontius Pilatus findet keine
Ruhe. Es ist ungerecht, daß er, der zufällige Prokonsul,
betroffen wurde, doch niemals kannten die bestimmten
Geschicke etwas wie Gerechtigkeit — und büßt nicht jeder,
der büßt, einen Zufall, eine Begegnung?
Pontius Pilatus, der ewige Römer, trägt seine erstarrte römische Maske
durch die Geschichte und die Welt — eine Maske, die Züge des Republikanismus,
der Staatenlenkung, der lügnerisch gewordnen Bürgertugend und der weltlichen
Skepsis erhärtet.
Er war, wie einstens mit Eugen, dem Bücherfreunde und Soldaten, in
Belgrad. Er sah ein Volk, in chaotischer Wildheit und der naiven Verderbt
heit einer starken Jugend, sich in den letzten Nöten des Überlebens winden.
Sie hatten gemordet, nicht zum ersten Male. Sie schwuren überzeugt und vor
eilig, sie glaubten ihren Schwüren. Pontius dachte, unter seiner zermürbten Hirn
haut, den schon verflachten Gedanken seiner Jahrtausende: was ist Wahrheit?
Pilatus sah in Wien ein nicht mehr kindliches, einmütiges, entschlossenes
Volk, das kaum erschüttert lebte von der Größe seiner Bedrohung, wo zwei
felte einer an Rraft und wert? Sie glaubten an ihr Recht und ihre Heiligkeit
— und daß alle Wahrheit nur bei ihnen sei.
Rom aber, seine alte Heimat, fand er im Taumel. Berauscht vom Gefühl
der bodenlosen großen Worte lärmte das Volk. Erregungen ohne Anlaß;
Beziehungen, die nicht bestanden, auf Lügen erbaute Entschlüsse; unwahr, fast
unwirklich alles und dennoch machtvoll. Pilatus erfaßte von altersher die
unrömische Geste, mit der sich Rönig und Dichter verbanden; er fühlte nicht
die Erlösung derer, die seltsam aufrichtig Jubeltränen entströmen ließen, aber
er verstand sie und die gläubig wehenden Fahnen über dem bezuglosen Fana
tismus der Straßen. Hier gab es nur lautere Unwahrheit — und dennoch Bestand.
Er dachte, als er weiterfuhr — angestrengt, nicht mehr leidenschaftlich —
wieder darüber, was Wahrheit sei. Und er erkannte: „Nichts ist Wahrheit,
weil alles Wahrheit ist. Sie ist als metaphysische Frage Privatangelegenheit
des Individuums. Aufrichtigkeit, nicht Wahrheit stellt die Pfosten der Ver
bindungen einzelner Menschen. Der Tatbestand wird von den nach dem Rechte
Fragenden allzu wichtig genommen. Nichts ist Wahrheit und Gründe sind
gleichgültig. Auf ganz andere Dinge kommt es unter den Menschen und in
ihren Verbänden an!"
Der Staatsmann hatte erkannt, daß seine tausendjährige Frage falsch
gestellt sei; und er fuhr fort, die XXamtn dieser andern Dinge zu suchen.
Rudolf Leonhard