45
Glossen und Kritiken
Zranz Werfel, Die Lroe -
rinnen des Luripides. (Kurt
Wolff, Leipzig.) Sahrtausende altes
Leid wird wieder erweckt, schreit feinen
Schmerz herans, redet ihn in unserer
Sprache.
2m Grunde ist das ganze Drama eine
laug ausgefponnene Zolter. Als sollte
gezeigt werden: soviel läßt sich aus einem
Niedergeworfenen, Vernichteten, Halb
toten noch herausholen an Geschrei,
Geheul und Gejammer. 2n „einer
gleichsam ewigen Dämmerung" vor
dem zerstörten Lroja die überlebenden
Zrauen. Und nun sehen wir die Wehr
losen beschimpft, verhöhnt, auseinauder-
gezerrt in die Sklavenarbeit oder ins
Bett der mörderischen Sieger, sehen
das Kind Hektors, das unschuldige,
um das die Hoffnung und die süßesten
Laute der Liebe stammeln, erbarmungs
los zerschmettert im Schilde des Vaters
gebettet, und die ihn, ihr Letztes,
dort hinlegen mußte, die 2ammer-
vollfte, die alte Hekuba, geht von
der brennenden Heimatstadt den Weg
in die Sklaverei. 2st das erträglich?
Besonders wenn so im Schmerz ge
schwelgt wird, wie diese Zraueu es tun?
Sie schütten ihn aus vor uns, wühlen
darin, holen sich aus der Liefe der
Erinnerung Süßes und Herrliches, an
ihm die bittere Gegenwart sich noch
mehr zu verbittern. Aber indem sie gegen
die erbarmungslosen Zeinde und die
ungerechten Götter ihren Haß und
Zlnch anstürmen, schassen sie sich ihre
eigene Welt. Aus nichts als ihrem
eigenen Schmerz.
Und gerade daraus kommt — über
wältigend — die Erkenntnis, welch ein
Reichtum noch in solchem Leiden steckt.
Besser gefoltert werden und die Zolter
erleben (und die Qual herausschreien)
als dahiudämmern ohne Schmerz. Es
ist herrlich, nackter Mensch zu fein
in aller Erbärmlichkeit, Kleinlichkeit»
Gehässigkeit, Ohnmacht.
Hier ist das gleiche Gefühl wie beim
geblendeten Gloster in König Lear»
wenn er von den fliegentöteuden
Göttern spricht. Der zertretene
Mensch, der die Ungerechtigkeit seines
Schicksals nicht anerkennt, wächst in
demselben Augenblick über dies Schick
sal hinaus, wird fein Richter und
nimmt feine Kraft aus einer jenseitigen
Welt, diese Kraft, mit der die alte
Hekuba „ihr Leben an die Brust
nimmt und zu Ende trägt". Das ist
der einzige Weg zur Schicksalsiiber-
wiuduug. Richt die stumpfe Ergeben
heit, die es gerecht nennt, sondern die
Kraft, die ihr Recht in sich selbst sucht
und behauptet. Hier heißt ste noch
Stolz und Lrotz. Darüber hinaus, stärker
als beide, wächst nur die Liebe.
Werfel, der uns diesen alten stolzen Hei
den, den lebendigsten und wahrhaftig
sten der griechischen Lragiker, wieder
erweckt hat, hat eine schöne und tiefe
Einleitung dazu geschrieben und, ihn
aller Fremdheit und Rhetorik entklei
dend, chm seine eigenen Worte gegeben,
die hold oder furchtbar zu unserem
Herzen sprechen und alle seine Quellen
springen machen. Dafür danken wir
ihm. Und dafür, daß er es in dieser
Zeit getan hat, und uns so einen Spie
gel gibt, die Unermeßlichkeit unseres
heutigen Erlebens von uns losgelöst»
einmal zu sehen.
Wobei dann die Erkenntnis recht ein
leuchtend wird, daß das Große unserer
wie aller Zeiten doch nur im Erleben
des einzelnen liegt, nicht in der Zahl