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Philosophie und Gemeinschaft
safere aus der Gemeinschaft ins Gesellschaftliche verfallene Menschheit lebt
nicht nur wirtschaftlich» sondern auch geistig in einem anarchischen Gegeneinander,
und so sind ihr nufere Einsichten bestenfalls immer nur „Ansichten", in welchem
Wort Anerkennung und Verachtung des Sudividuums gleichzeitig Uegt» sehr charak
teristisch für die Gesellschaft, dieses Zluteude der Sndividueu» die sich nur finden,
am sich abzustoßen. Die Gesellschaft hat das Denken der Welt, das „Philo
sophieren", zu einem Beruf gemacht, den sie, ihn „wisieuschaftlich" neuueud, aus
zuzeichnen meint io ihrer Sdolatrie des Wisienfchaftlicheu» — einem Beruf, den
jeder Einzelne nach Zähigkeit und Laune ausüben mag, wenu's ihn freut, —
genau wie sie es in des Einzelnen Belieben stellt» ob er als Ehemiker oder
Schuster sein Leben gewinnen und hinbringen will. Das Gemeinsame sieht sie
nur im substantiellen Objekt: hier die Welt der Stiefel» dort die Welt der Er
kenntnisse. Und wie die Schuhfabrikauteu zwar alle Schuhe machen und doch
jeder von ihnen Wert darauf legt, ganz besondere Schuhe herzustellen» da sie ja
alle gegeneinander und nicht miteinander produzieren, — genau so die Philosophen
der Gesellschaft: sie denken nicht sokratisch mit-, sondern gegeneinander» und A
lebt davon, daß er B „widerlegt". Das Philosophieren ist eine Disziplin ge
worden ganz gegen ihr Wesen, das gar nicht „wisieuschaftlich" im gesellschaft
lichen Sinne ist und gar nicht „historisch" im exakt-wissenschaftlichen Sinne» wie
etwa ein Lehrbuch der Chemie von 1915 „wahrer" ist als eines aus dem Sahre
1860, weil das erste brauchbarer ist. Das Philosophieren ist Anschauen der Welt
— um mit dem falsch gebrauchten Wort „Weltanschauung" nicht mißverstanden
zu werden —, das sein einziges „Kriterium" in der Gemeinsamkeit des Miteiu-
auderselns hat, in einem Drinnen also» nicht in einem eiuzeldenkerischeu Draußen»
das ja seinerseits wieder ein solches Kriterium brauchte» und dieses wieder eines,
und jo fort ad infinitum. Der Schulstreit um die „Richtigkeit" einer Philo
sophie ist ein Gesellschaftsspiel mit wisienschaftlicher Altare» in dem der Philo
soph sich selber einsetzt und selbstverständlich mindestens sich selber wieder ge
winnen will. Daher der für das gesellschaftliche Philosophieren unbestreitbar
richtige Satz, daß keine Philosophie mehr wert ist als der Philosoph, der sie
hat. Sich nirgends zu widersprechen» hält A um so mehr für den wichtigsten
Beweis feiner Wahrheit, als er mit nichts sonst beschäftigt ist wie dem B desieu
Widersprüche auszuweisen und daraus desieu „Wahrheit" zur „Aicht-Wahrheit"
zu machen. „Das Leben ist eine Ceudeuz zur Individuation", — diesen Satz