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Bei Gelegenheit von Dostojewskis Säugling
d ostojewjki zu kritisieren, wird vielleicht in hundert Sahreu möglich fein, vielleicht
auch erst viel später. Heute erfassen wir immer uur ein Stück von ihm: seine
Psgchologie, seine Mgfiik, seinen Paujlavismus, seinen Lhristusgedaukeu. Will
man aber diese Einzelheiten einzeln nehmen und formulieren» so erlebt mau jedesmal,
daß sie sich unter den Händen verwandeln und verflüchtigen. Star eh Sossima, das
ist viel mehr als Ehristusmgstik» und Andrei Petrowitfch Warssiloff, das ist viel
mehr als „Westlertum".
Die Sache wird am auffallendsten» wenn mau zum Vergleich den um
fassendsten unserer letzten Westeuropäer nimmt: Balzac. Er ist umschreibbar,
trotz seines ungeheuerlichen Reichtums; er ist Ausdruck einer bestimmten Kultur»
einer festen Wirklichkeit. Dostojewski ist gar kÄue Wirklichkeit, sondern uueud-
tiche Möglichkeit.
Vielleicht daß Shakespeare einmal für seine Zeit etwas Ähnliches war.
Zür eine Seit, die auch noch nichts Gewordenes war, sondern ein Lhaos unge
heuerlichen Werdens, war auch er vielleicht ein Blitzstrahl über der Dunkelheit,
ein Borwärtsweiseu auf Sukuuftswege» ein „Geist Gottes über den Wassern".
Rur daß Shakespeare nicht in einer so zweigeteilten Welt stand wie heute
wir. Dostojewski redet zu seinem Volke, zu seinem Volke, das noch nicht ist, zu
seinem Volke, das wird; und wir hören zu, die schon Gewordenen» die Fremden.
3ch kenne Rußland nicht, weiß also nicht, wie weit Rußland Dostojewski
ist. Ls ist mir auch unwichtig» ob ihn die Wirklichkeit erreicht. Hier handelt es
sich ja nicht allein um Rußland; hier ist viel mehr, hier ist eine Welt im Werden.
Aus einer zerfallenden Welt heraus. Alles zerfällt und stirbt bei ihm: Staat und
Wirtschaftsleben» Gesellschaft und Familie» Sitte und Religion, der einzelne, der in
der allgemeinen Vernichtung Verbrecher wird oder sich selbst zerstört.
Es hat wieder und wieder in der Geschichte solch zerfallende Völker
und Welten gegeben. Aber nie sind sie in solcher Weise aufbewahrt und aufgezeigt.
Dazu hat in allgemeiner Auflösung niemand je die Kraft gehabt. Me Stärksten und
Klügsten konnten sich ereifern» prophetiereu — oder lachen. Weiter langte est nicht.
Hier aber ist der Weltuntergang gesehen von einem, der in sich Mut und Glaube»
»ud Wissen von einer neuen Welt trägt. Er läßt ste aufwachsen aus dem
Zusammenbruch. Wie einen Urwald nach einem Waldbraud: in allen Erümmer«
spürt mau das Keimen. Was daraus wird, läßt sich noch nicht sagen. Ls ist alles
Knospe, die sich entfalten will» die alle Möglichkeiten in sich trägt. Airgeude
ist solch zärtllche» solch leideuschaftllche Liebe zum Leben wie in Dostojewski»
Büchern. Nirgends sonst umfaßt das Leben ja so viel.
Es ist noch nicht durch Wachsen und Entwicklung, nicht durch Vergangen
heit einseitig geworden, nicht durch Reicherwerdeu ärmer. Es ist ja wirklich nichts
als Zukunft, nichts als Sagend» nichts als Hoffnung. Deshalb müsse» Dostojewskis