nur von großen Katastrophen aus, und die sogenannten friedlichen Reformen
dringen meist kaum durch die Haut, geschweige denn, daß sie bis ans Herz
reichen. Schuldige zu suchen ist gleichwohl menschlich, und Schuldige sind auch
da; daß sie zugleich die Diener des uns unbekannten Schicksals sind und so
die Zukunft gestalten helfen, mindert ihre Verantwortlichkeit nicht. Sie müssen
so verworfen sein, daß unsere allzu kultivierte und bürgerliche Einbildungs
kraft versagt, wenn wir uns den Unfang ihres Verbrechertums vorstellen
wollen. Mich dünkt, daß uns neueren Dichtern der Mut, das Böse in seinem
elementaren Wesen zu statuieren, mehr und mehr abhanden gekommen ist und
daß wir uns in empfindsamer Scheu daran gewöhnt haben, es psychologisch
zu verdünnen und zu rationalisieren. Ja, das Böse ist, es existiert. Es gibt
einen Teufel, den großen Gewissenlosen, den großen Entnervten und Entherzren.
wie genußsüchtig er ist, wie lüstern und feig! Er will nicht morden, er will
vielleicht nur die Macht; oder vielleicht will er auch die Macht nicht, vielleicht
will er nur Schätze; oder es ist ihm auch um Schätze nicht zu tun, und es ver
langt ihn in der Finsternis seiner Seele bloß nach Lärm, Gebrüll, Verwirrung,
Umsturz und Zähneklappern. Vielleicht ist er auch nicht einmal lüstern und
genußsüchtig, vielleicht ist er satt, übersatt und streut Tod um sich her, damit
die lästige Zeit vergeht, und brennt Städte nieder, um die steinernen Mienen
seiner Schergen und Kreaturen aufzuhellen und durch Börsenspekulationen
ihre Taschen zu füllen, wie verständlich er mir plötzlich ist; wie unheimlich
und grausig wahr ihn sein tiefster Renner, Dostojewski, gemalt hat! Hüten
wir uns vor ihm, denn Europa fängt erst an, unter feinen Pranken zu erbeben.
wenn nun das Böse so folgenschwer tätig sein, solche Zerstörung und Ver
zweiflung bewirken kann, so müssen wir trachten, daß auch die Güte von andrer
Beschaffenheit werde, als sie bisber war, verlangender, begieriger, leidenschaft
licher, wachsamer und ausdauernder. Dadurch und nur dadurch können wir
den Teufel besiegen, im letzten Sinne meine ich, und wenn der Waffengang
beendigt ist, werden erst die großen inneren Schlachten zum Austrag und zur
Entscheidung gelangen.
Seien Sie freundschaftlich gegrüßt
von Ihrem
Jakob Wassermann