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Jahresbericht 1942 der Zürcher Kunstgesellschaft
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dem genannten Bilde stammt aus dem Bahnhof in Genf, aus der Zeit als ich die Fresken
malte im Schweizer Saal des Völkerbundsgebäudes im Jahre 1936 Juli-Dezember.
Hingegen ist die Sache so, daß mich Bahnhöfe von jeher stark beschäftigten, d.h. ich
treibe mich stets gerne in den Hallen derselben‘ herum. Das Kommen und das Gehen, das
Abschiednehmen einerseits und das Wiedersehen, die Begrüßungen anderseits zwischen
den Reisenden, ist mir steis wie eine Art von Bestätigung oder Parallele der Lebensreise
überhaupt vorgekommen. Dann aber ist das künstlerische Problem bei diesen Aufenthalten
nicht zu vergessen: Raum und Licht, und darin der Mensch. So bedeutet das ge-
nannte Bild, in seiner heutigen Fassung, wohl die reinste oder reinlichste Lösung von allen
denen, die ich aus diesem Problem heraus komponierte».
In zwei Studien, die zu dem Bilde vorhanden sind, und in der durch die «Arta» (Großen-
bacher, Zürich) verlegten Radierung nach dem gleichen Thema sind alle Figuren bekleidet.
Die «Komposition» ist ein Wandbild, das seine Wand nicht gefunden hat.
Auf Fresko-Ton sind die matten Farben gestimmt, für welche vorerst «zart» als das
bessere Wort sich einstellt. Sie werden aber klar und kräftig für das Auge, das länger auf
ihnen verweilt. Auf einem Grundtion von Grau heben die schwereren und die lichten Töne
sich bedeutungsvoll ab, und das scheinbare Grau selber erhellt und verdichtet sich zu Farbe.
Die hellgrüne Mädchengestalt eilt vor heller Wand herbei wie ein Engel der Verkündigung,
mit ihr strömt das stärkste Licht vom Eingang her, und aus dem kleinen Stückchen Himmel
über die beschattete Treppe hinweg, in das unterirdische Gelaß auf die Menschen und die
Betonwände. Die beiden dunkeln Gestalten bilden mit den drei Mädchen ein Kreuz nach
Bewegung und Beziehung. Die jungen Männer stehen daneben als überlegen-unbeteiligte
Beobachter und Herren der Welt.
Tafel V Ernst Georg Rüegg
Grimmige Tiere und wilde Männer bedrohen das Menschenkind
Oel auf Leinwand 121 X 93 cm, bez.: Rüegg 1918
Noch einmal nicht reine «peinture», sondern eine «Komposition», komponiert aus For-
men, Farben und Elementen nicht formal-ästhetischer Natur, ist das Bild von Ernst Georg
Rüegg mit dem etwas umständlichen Titel. Die malerische Phantasie hat bei Rüegg eine
Schwester, die aus den Erlebnissen der Seele nicht so sehr wie der Sinne kommt.
Düster und drohend, wie die gefährliche Gesellschaft um das arme Menschenkind, er-
scheinen die Farben, wild rot die Feuerbrände vor dem Horizont und das Feuerlein beim
liegenden Fuchs im Vordergrund, schrill und dumpf neben einander das Mehlweiß des
kleinen und das Rostrot des großen Hornbläsers, im ganzen, dunkel schwarzgrünen, grau-
blauen und erdbraunen Bild verteilt, das unbestimmte Gelbbraun der drei Füchse und des
Lärchenbäumleins, etwas edler höchstens das stahlblaue Manteltuch des Schwertträgers und
die blauen Wickelbänder des Kindes.
Der Künstler erklärt, das Bild sei unter der Stimmung der Kriegsjahre 1917/18 ent-
standen «im Ausklang des Kriegsgeschehens». Die Jahrzahl 1918/19 trägt das Bild «Die
schlimmen Nachbarn betören das Knäblein», das dem Kunsthaus schon seit 1930 gehört,
aber wie der Künstler sagt aus dem «Anfang des Krieges» stammt, also wohl langsam er-
arbeitet oder dann erst in einer spätern Fassung in das Kunsthaus gelangt wäre. Als Leih-
gabe der kantonalen Regierung ist dem Kunsthaus in neuester Zeit eine dritte Komposition
von Rüegg erreichbar geworden in dem Bild «Kinder sagen, sie hätten im Walde Männlein
gesehen», eine vierte «Gespräche der Jägerburschen» als Geschenk des dem Kunsthaus beson-
ders nahe verbundenen «Zürcher Sammlers».
Das bedrohte Knäblein von Ernst Georg Rüegg hat einen ältern Bruder in dem «Um-
schlichenen Jüngling» von Hermann Huber, während Ferdinand Hodler sein Knäblein,
den «Auserwählten», von sechs Engeln behütet sein läßt.
W. Wartmann