Wirklichkeit von Grund auf ändert, zunächst so, daß das
statische Gleichgewicht von Pferd und Reiter ins Bewegungs-
hafte gestört wird — kentaurische, animalische Verschwiste-
rung von Tier und Mensch; und endlich stürzt das reptilien-
haft gewordene, dämonisierte Pferd im «Miracolo». Eben diese
Phase verkörpert, als eine von verschiedenartigen Lösungen
des Problems, auch der Zürcher «Miracolo>»?®, Am Thema, das
durch Jahrhunderte hindurch der Glorifizierung des Menschen
gedient hatte, ereignet sich dessen radikale Entthronung. «Il
Miracolo> — das Wort ist von Marini verwendet als Allusion
auf das Geschehnis der Bekehrung des Apostels Paulus; ein
Vorwurf ursprünglich der christlichen Kunst findet seine in
existentiellen Erfahrungen der Gegenwart wurzelnde Säku-
larisierung. Denn obgleich die Metamorphosen, die der Reiter
im Werk Marinis durchläuft, zunächst durchaus als autonom
künstlerischer, immanenter Wandlungsprozeß der Form selber
verstanden werden können, sind solche gedankliche Hinter-
gründe nun hier sicherlich im Spiel. «Seltsam, alle Reiter fal-
len mit jetzt vom Pferd... Ich suche... das letzte Stadium
in der Auflösung eines Mythos zu versinnbildlichen, des
Mythos vom heldenreichen, siegreichen Individuum, vom
„uUOomo di virtuı“ der Humanisten. Meine in den letzten vier-
zehn Jahren entstandenen Werke wollen nicht heroisch, son-
dern tragisch sein», so lautet ein Ausspruch des Künstlers aus
dem Jahre 1958.**
Sowohl die Kunst von Laurens wie von Marini verwirk-
licht sich, aus mediterranem Weltgefühl heraus, in gestalthaf-
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Die engste Verwandtschaft besteht zur «Miracolo»-Holzskulptur von 1955 des
Kunstmuseums Basel (Katalog der Marini-Ausstellung, Kunsthaus Zürich 1962,
Nr. 87, mit Abbildung; Bronzefassung von 1954 im Kunsthistorischen Museum
Wien; Umbro Apollonio, Marino Marini, 2. A., Milano 1958, Abb. 123). Die
Gruppe dieser Werke charakterisiert durch ein relativ «naturalistisches» Geha-
ben, verglichen mit der seit 1957/1958 mehr und mehr sich durchsetzenden
Tendenz, das Motiv (als «Reiter» und «Krieger») aus mächtigen, schrundig-
malartigen «Formtrümmern» zu bilden (vgl. Eduard Trier/Helmut Lederer,
Marino Marini, Plastik, Stuttgart 1961, Abb. 130—136).
Marino Marini, Zeichnungen, Photos, Bekenntnisse, Zürich 1959, S. 46.
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