Nach dem Exodus aus Russland umgab sich Chagall, zuerst in Berlin,
dann in Paris, mit dem Gestaltenkreis und den Witebsker Stadtlandschaf-
ten seiner Jugend. Teils hielt er sich nahe an die spärlich erhaltenen
Originale, teils malte er aus der sehnsüchtigen Erinnerung mit Öl oder
Gouache Repliken, Varianten und Neufassungen. In der vorletzten Fas-
sung, die jetzt dem Kunsthaus gehört, taucht die stilistische Haltung der
Version von Toronto wieder auf, Sie enthält, in Details leicht abgewandelt,
die frische, dingliche Poesie des säuberlich durchartikulierten verlassenen
Stadtwinkels mit den charakteristischen Lattenzäunen und hölzernen
Blockhäusern. Der Farbakkord Blau-Grün-Rot hebt sich ab von der warm-
weissen Dominante mit blauen Schatten und vom Grau des Himmels. Der
leichte Film, der sich vor die Szenerie geschoben hat, und die mystisch
durchstrahlten Farben geben die irreale Stimmung der wunderbaren
Levitation wieder. Legendenhaft spielt sie sich wie ein Tagespendant zu
der himmlischen Nachterscheinung des Engels ab, der «wie ein weisser
Blitz über deri Dächern/ mir einen langen, langen Weg prophezeite...»
“Gedicht Chagalls, abgedruckt in: Andre Malraux, «Les ceramiques et
sculptures de Chagall »).
In der letzten Wiederaufnahme (Gouache auf Papier, Mrs. Stephen Kel-
ler, New York; Meyer Kat.-Nr. 536) suchte Chagall 1924 nach neuen Be-
ziehungen zwischen den beruhigten Flächen und den diagonal ablaufenden
Wegen. Mit ihr erlosch diese Traumvision als ein selbständig behandeltes
Thema im Werk von Chagall. Einst war vor den Fenstern seiner Witebsker
Arbeitsräume die melancholische, bedrohte und gequälte Stadt erschie-
nen. In Frankreich, dem neuen Centrum securitatis, projizierte sich nun
im Ausblick eine friedliche, delikat rhythmisierte, blau-grüne Landschaft.
Eine Konfrontation dieser Adoptivheimat (L’Xe de Brehat, 1924) mit der
durch die Geburt ererbten brachte dem Kunsthaus Zürich der glückliche
Zufall verschiedener Schenkungen.
Dagmar Hnikova