Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

erzählte unter anderem von dem Jugend- 
erlebnis, bei dem er einen Luftgewehrbolzen 
ins Auge seiner Schwester schoss®. Franz 
Meyer weist darauf hin, «dass es bildende 
Künstler sind, welche gerade mit der 
Verletzung des Auges operieren, also die 
Waffe gegen das Organ richten, aus welchem 
die eigene künstlerische Schau hervorgeht». 
Es handle sich dabei jedoch nicht um ein 
mutwilliges Spiel, sondern um einen 
«Tabubruch, eine extreme Verletzung der 
herkömmlichen Weltordnung, die den Sinn 
hat, eruptiv psychische Grundkraft zu 
befreien, damit aus Ihr neue Ordnung ent- 
stehen könne*». Es ist bekannt, dass für 
Giacometti gerade das Auge das Lebens- 
zentrum des Gesichtes und der Figur 
überhaupt darstellte und In seinem späteren 
Werk von entscheidender Bedeutuna war. 
Das Motiv des « Spielbretts» kehrt in 
Giacomettis surrealistischen Werken häufig 
wieder. Es veranschaulicht psychische 
Grundsituationen; In den meisten Ist das 
«Spiel» erfüllt von Aggressivität und mehr 
oder weniger deutlichen Anspielungen auf 
den Kampf der Geschlechter. Die Plastik 
«Pointe a l’CEil» trug früher den Titel 
« Relations desagregeantes» (Sich auf- 
lösende Beziehungen). Auch das Bewegungs- 
motiv Ist für viele der surrealistischen 
Plastiken kennzeichnend. Giacometti selbst 
schrieb in seiner Werkanalyse von 1947, 
dass es besonders die Bewegung war, die 
ihn zu der Zeit fesselte. «Trotz all meinen 
Bemühungen war es mir damals unmöglich, 
eine Skulptur zu ertragen, die Bewegung 
vortäuschte, ein schreitendes Bein, einen 
erhobenen Arm, einen seitwärts blickenden 
Kopf. Eine solche Bewegung konnte ich nur 
Machen, wenn sie wirklich und tatsächlich 
war: ich wollte auch das Gefühl vermitteln, 
dass sie ausgelöst würde. Mehrere Dinge, 
die sich In gegenseitiger Beziehung 
bewegen®.» In den surrealistischen Plastiken 
wird die Bewegung nicht nur suggeriert, 
sondern oft durch die Einführung beweglicher 
Teile tatsächlich erzeugt. Die schon 1934 
berühmt gewordenen erotischen Bewegungs- 
objekte fehlten bei keiner der Surrealisten- 
Ausstellungen. Salvador Dali schrieb zu 
diesen Werken: « Die symbolisch agierenden 
Objekte, denen nur eine minimale wirkliche 
Motorik eigen ist, beruhen auf den Ein- 
bildungen und Vorstellungen, die durch 
die Aktion unbewusster Beweggründe in 
Szene gesetzt werden®.» Die Bewegung ist 
meist so gelenkt, dass sich die einzelnen 
Teile nicht berühren. Die Keule trifft das 
Auge nicht wirklich, sie ist Im letzten 
Moment angehalten und ruft nur den Ein- 
druck des Zustossens hervor. Im übrigen 
ist sie In der Zeichnung noch weiter vom 
Auge entfernt als In der Plastik, wie über- 
haupt die Plastik gegenüber der Zeichnung 
stärker in die Länge gezogen und niedriger 
Ist. 
Die Federzeichnung Projet pour une 
Sculpture: Homme et Femme, avec Torse de 
Femme ist wohl gegen Ende der surrealisti- 
schen Periode, das heisst in den Jahren 
1933-35 entstanden. Allerdings ist die 
Skulptur, für die dies wohl eine Entwurfs- 
zeichnung war, nicht bekannt. Wahr- 
scheinlich Ist sie nie ausgeführt worden. Die 
schmalen, überlängten Figuren haben 
Ahnlichkeit mit den Plastiken der schreitenden 
Frauen aus den Jahren 1932-34 sowie mit 
dem «Unsichtbaren Gegenstand» von 1934. 
Sie erinnern vor allem an eine der Frauen, 
die Glacometti als « Mannequin» bezeichnete 
und deren Torso er mit dünnen schwarzen 
Armen und einem Violinhals als Kopf 
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