Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

fassenderen Sinne ist Picassos gestaltendes 
Schaffen stets ein kreativer Akt gewesen, 
der Akt eines Schöpfers. Bei nicht wenigen 
Künstlern gilt der Satz: «Er lebte, um zu 
malen, er malte, um zu leben.» Bei Picasso 
indessen verdichtet sich die zweite Hälfte 
der Sentenz in exemplarischer Weise. Malen 
als lebenspendender und lebenserhaltender 
Akt! Unter diesem Vorzeichen muss die 
dauernde Auseinandersetzung des späten 
Picasso mit der lebenspendenden Liebes- 
vereinigung, mit dem Motiv des Kusses 
gesehen werden, dem ja das Moment des 
«Zum-Leben-Erweckens» durchaus eigen 
ist — man denke nur an die zahlreichen 
diesbezüglichen Schilderungen aus der Welt 
der Sage und des Märchens. Wobei der 
flüchtige Augenblick des Kusses bei Picasso 
zu gefühlsbetonter Vereinigung, Ja zum 
recht brutalen « Ineinander-Verbeissen» der 
beiden Gesichter (Avignon 1970, Nr. 102) 
oder zu formaler Monumentalisierung oder 
Ornamentalisierung (Avignon 1970, Nr. 105) 
gesteigert werden kann. 
Das Bild der Jenny und Georges Bloch- 
Stiftung ist, was die emotionelle wie die 
formale Seite betrifft, zurückhaltender. Auch 
in diesem Bild werden die beiden Gesichter 
in enge Verbindung gebracht; die Furcht 
ausdrückenden grossen Augen der Frau, die 
Lippen, die sich nicht berühren, die über- 
grosse Hand des Mannes, der den Ober- 
körper der Frau an sich presst — dies alles 
sind Gesten der (inneren und äusseren) 
Bewegtheit, die in den eingesetzten Stil- 
mitteln ihre formale Bestätigung findet. 
Auf den ersten Blick würde man das Bild für 
unvollendet halten. Der spontan und 
zufällig wirkende gelb-grüne Farbfleck in 
der rechten oberen Ecke, der nur skizzierte 
grosse Schlapphut und die übergrosse Hand 
im Vordergrund am untern Bildrand heben 
sich von den vergleichweise durch- 
modellierten Gesichtern ab und erwecken 
möglicherweise den Eindruck, als ob der 
Maler das Interesse am Bild vorzeitig 
verloren hätte. Davon kann allerdings keine 
Rede sein, denn es ist gerade ein charakte- 
ristisches Merkmal von Picassos Altersstil, 
dass er die Leinwand in der Regel nicht mehr 
gleichmässig ausmalt, sondern die ver- 
schiedenen Grade der Vollendung einander 
bewusst gegenüberstellt. Bereits mit der 
kubistischen Collage hat der Künstler ein 
erstes Mal die Homogenität der Bildober- 
fläche in Frage gestellt. Jetzt, gut ein halbes 
Jahrhundert später, erreicht er denselben 
Effekt allein mit Pinsel und Farbe. Die 
absolute Freiheit, deren sich Picasso in seiner 
letzten Schaffensjahren in der Handhabung 
der Bildmittel bedient, ist Merkmal dieser 
Bilder, die gerade dank dieser Freiheit als 
Alterswerke zu bezeichnen sind. Alterswerke 
allerdings nicht im Sinne einer beruhigenden 
Abgeklärtheit. Picasso bleibt bis zuletzt 
dynamisch, expressiv. Dramatisch gestaltet 
er das Hintereinander räumlicher Staffelungen 
holt einzelne Darstellungsgegenstände — 
eine Hand etwa! — ganz nah zu sich heran 
und lässt andere Motive zurücktreten. Der 
fliessende Blickpunkt des Malers, der sich 
nicht auf eine einzige Perspektive festlegen 
Jässt, ist wiederum seit den Tagen des 
Kubismus ein bekanntes Phänomen. Wie 
denn überhaupt zu sagen ist, dass Picasso In 
seiner Spätzeit häufig auf Erfahrungen seiner 
heroischen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg 
zurückgreift, dies nicht in bewusster 
Anlehnung, sondern in freier und um- 
deutender Weise. In diesem Sinne kann auch 
die Verbindung von Frontal- und Profil- 
ansicht der Gesichter gesehen werden: 
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