Volltext: Jahresbericht 1976 (1976)

LUCIO FONTANA: 
SONCETTO SPAZIALE, «BUCHI», 1949/50 
Fontana hatte soeben, 1948, sein erstes Manifest 
iber den Raum, das Manifesto Spaziale, ver- 
öffentlicht, als er umgehend begann, seine Thesen 
n die Wirklichkeit umzusetzen: nämlich den Raum 
als die eigentliche und wesentliche Konzeption 
seiner Malerei anzusehen und zu verwirklichen. Der 
als dahin vorwiegend als Bildhauer und Keramiker 
tätige Künstler, der eine Phase barocker, plastischer 
Werke hinter sich hatte, manifestierte seine Vor- 
stellung mit einer Direktheit, die es bisher im 
Bereich der Kunst nicht gegeben hatte: er durch- 
Ööcherte die Leinwand, um ihre Zweidimensionalität 
zu zerstören und den hinter ihr befindlichen Raum 
als dritte Dimension des Bildes mitsprechen zu 
ı1assen. In dieser Geste lag eine Absage an die 
Tradition, die daran gewöhnt war, Raum malerisch 
zu entwickeln, und lag zugleich auch ein Angriff 
auf die Unantastbarkeit und Unzerstörbarkeit des 
Bildgrundes. Und doch war es auch eine Geste der 
Befreiung, die für das persönliche Werk Fontanas 
yon da an beherrschend sein sollte. Fontana nannte 
von diesem Zeitpunkt an alle Werke, ob Bilder oder 
Plastiken, «Concetti spaziali». Die ersten durch- 
'öcherten Bilder entstanden 1949. Zu diesen 
Anfängen eines neuen Bildstils gehört das Geschenk 
an das Kunsthaus. Die Leinwand ist mit kleinen 
Löchern, « Buchi» und Einschnitten perforiert, die 
sich in einer Art graphischer Struktur über die Bild- 
fläche legen. Über Jahre machte Fontana Bilder 
mit « Buchi» in immer wieder anderen Strukturen, 
aber immer mit dem gleichen Ziel: den Raum als 
Wirklichkeit und nicht als Illusion ins Bild ein- 
zuführen. In einer langen Reihe von Bildern hat er 
die « Buchi» mit Glassteinen gehöht, um ihnen 
Glanz zu verleihen. 1958 erfand er jene folgenreiche 
Bildform, die ihn berühmt machte: er schnitt in die 
Leinwand mit spontaner Geste. Diese «Tagli» 
naben sich heute —fälschlicherweise — In der Vor- 
stellung von Fontanas Werk als Hauptakzent in 
den Vordergrund geschoben. Aber auch sie 
beherrschen nur einige Jahre seines Lebens. 
Fontana war ein viel zu bewegter Geist, um 
nicht immer wieder nach neuen Bildformen zu 
suchen. Aber « Concetti spazlali» bleiben sie alle. 
Die «Buchl» sind in monochrome — das heisst 
eingefärbte oder ungrundierte — Naturleinwand 
geschnitten. Nach Malewitsch, der sich bereits 
1913 mit der monochromen Fläche beschäftigt hat, 
ist Fontana der erste Maler, der sich von neuem 
mit diesem Problem auseinandersetzt, das in der 
Folge eine feste Tradition im Bereich der modernen 
Malerei werden sollte. 
Man muss sich fragen, ob Fontana die Durch- 
löcherung seiner Leinwand neben ihrer räum- 
lichen Konzeption und ihren zweifellos auch 
dekorativen Werten, die durch die Anordnung der 
Löcher entstehen, auch inhaltlich interpretiert 
sehen wollte. Fontana war den Problemen seiner 
Gegenwart leidenschaftlich aufgeschlossen. Er 
interessierte sich passioniert für die kosmischen 
Entwicklungen und sah in der Rakete die Architektur 
der Zukunft. Einen Bruchteil dieses kosmischen 
Raumes als Realität in die Kunst umzusetzen war 
eines der Ziele seiner « Buchi». Viele dieser 
Kompositionen aus den Jahren 1949/50 bis 1955 
haben kreisende Bewegungen. Die Löcher sind 
gruppiert und wie Sternenhaufen und Sternen- 
nebel angeordnet. Man ist versucht, an Galaxien 
zu denken. Fontana geht es bei dem Versuch, neue 
Räumlichkeiten des Bildes zu entwickeln, gleich- 
zeitig darum, eine Analogie zur Wissenschaft seiner 
Zeit herzustellen. Unter diesem Aspekt betrachtet, 
ist das Durchlöchern der Leinwand als direkter Akt 
der Umsetzung von kosmischem Raum anzusehen. 
Die « Concetti spaziali» — Verräumlichungen — darf 
man als künstlerischen Reflex der modernen 
Kosmologie verstehen, eine «Hommage» an die 
Nissenschaft: Fontanas Antwort als Künstler auf 
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