zudem urbanen Volksbrauchs hat viel mit Jener
«anderen Wirklichkeit» zu tun, in der die Gesetze
der Alltagswirklichkeit aufgehoben sind und un-
erwarteten verbalen oder visuellen Assoziationen
Gewicht zukommt, einer Wirklichkeit auch, in der
das Groteske, Unheimlich-Hintergründige, ja das
Diabolische und Makabre wesentliche Elemente
sind. Kein Zufall, dass die Basler Künstlerschaft stets
aktiv an der Gestaltung der Fasnacht beteiligt war.
Die Übertragung und Ausweitung «fasnächtlichen
Denkens» auf andere Lebens- und Kunstbereiche
hat in den frühen dreissiger Jahren viele Junge
Basler Künstler dazu geführt, mehr oder weniger
konsequent und mit unterschiedlichen Stilmitteln
surreal zu arbeiten. Die meisten dieser Künstler ge-
hörten 1933 zu den Begründern der « Gruppe 33»,
die nicht ein stilistischer, vielmehr ein gesinnungs-
mässiger Zusammenschluss war. Neben Walter
Kurt Wiemken, Otto Abt, Charles Hindenlang,
Walter J. Moeschlin, Hans R. Schiess, der blut-
jungen Meret Oppenheim und anderen gehörte
auch Kurt Seligmann zu diesem Kreis. Man traf sich
täglich in einem — längst verschwundenen — Neben-
lokal des Kunsthalle- Restaurants, das in seiner
Ausstattung ein wenig an ein fasnächtlich motivier-
tes Gruselkabinett erinnerte. Aus diesem Kreis ver-
abschiedete sich der Möbelfabrikantensohn Kurt
Seligmann, bevor er sich richtig formiert hatte.
Aber das spezifische Basler Kulturerbe blieb für den
Bewunderer des Zeichners Urs Graf stets lebendig.
«Bäle...c’est encore et toujours Holbein, Erasme,
Frobenius, Melanchthon. Et c’est dans la culture de
ma ville natale que mon subconscient me conduit
toujours lorsque ]’essaie de r6aliser mes composi-
tions soi-disant abstraites ou imaginatives. II! me
semble entendre encore, au creux de mon oreille,
les bourdonnements sourds et severes des enormes
tambours qui retentissent le jour du Carnaval.»
Künstlerisch in Basel und in Genf ausgebildet, wo
er den Mitstudenten Giacometti kennenlernt und
porträtiert, hat Seligmann seit 1927 mit Unter-
brechungen in Paris gelebt. 1930 setzt seine eigent-
lich surreale Schaffensphase ein. Zunächst Mitglied
der Gruppe «Abstraction-Creation» und eng be-
freundet mit Hans Arp und Le Corbusier, stösst
er 1935 zur Surrealisten-Gruppe um Andre Breton,
an deren Ausstellungen er fortan beteiligt ist. 1939
übersiedelt er nach New York, wo er in den Kriegs-
jahren viele Pariser Surrealistenfreunde wieder
trifft, vor allem Marcel Duchamp, Man Ray, Andre
Masson, Max Ernst, Yves Tanguv. Bis 1960 lehrt er
am Brooklyn College of Art. Neben dem malerischen
Werk entsteht ein umfangreiches graphisches, vor-
wiegend radiertes (Euvre. Lebhaft an Theater und
Ballett interessiert, hat sich Seligmann auch der
Bühnenausstattung gewidmet, so für « Die vier
Temperamente» (Paul Hindemith; George Balan-
chine), «The Golden Fleece» (Hanya Holm; New
York City Ballet) und «The Unicorn, the Gorgon
and the Manticore» (Gian-Carlo Menotti). Am
2. Januar 1962 fand man Kurt Seligmann, das
Gewehr neben sich, tot vor der Türe seiner Farm
in Sugar Loaf, New York.
Seligmann war nicht nur Maler, Zeichner, Bühnen:
künstler und Illustrator (Lautrgamont, Marquis de
Sade, Ödipus); er hat auch eigene dichterische und
essayistische Publikationen herausgegeben. Auf
ainem Gebiet wurde er zum eigentlichen Kenner:
der Geschichte der Magie. Er besass die wohl
grösste Bibliothek zu Fragen des Aberglaubens und
der «geheimen Künste». 1948 veröffentlichte er in
New York «The History of Magic», die mehrere
Auflagen erlebt hat (deutsch: «Das Weltreich der
Magie», Wiesbaden 1958). Die Beschäftigung mit
Aberglauben und Magie, mit Geheimreligionen,
<abbala, Symbolik, Emblematik und so fort haben
stark auf Seligmanns künstlerisches Werk ein-
gewirkt. «Als Maler beschäftigte ich mich besonders
mit den ästhetischen Werten der Magie und ihrem
Einfluss auf die schöpferische Phantasie des Men-
schen. Was uns von den alten Völkern über-
39