Volltext: Jahresbericht 1977 (1977)

zudem urbanen Volksbrauchs hat viel mit Jener 
«anderen Wirklichkeit» zu tun, in der die Gesetze 
der Alltagswirklichkeit aufgehoben sind und un- 
erwarteten verbalen oder visuellen Assoziationen 
Gewicht zukommt, einer Wirklichkeit auch, in der 
das Groteske, Unheimlich-Hintergründige, ja das 
Diabolische und Makabre wesentliche Elemente 
sind. Kein Zufall, dass die Basler Künstlerschaft stets 
aktiv an der Gestaltung der Fasnacht beteiligt war. 
Die Übertragung und Ausweitung «fasnächtlichen 
Denkens» auf andere Lebens- und Kunstbereiche 
hat in den frühen dreissiger Jahren viele Junge 
Basler Künstler dazu geführt, mehr oder weniger 
konsequent und mit unterschiedlichen Stilmitteln 
surreal zu arbeiten. Die meisten dieser Künstler ge- 
hörten 1933 zu den Begründern der « Gruppe 33», 
die nicht ein stilistischer, vielmehr ein gesinnungs- 
mässiger Zusammenschluss war. Neben Walter 
Kurt Wiemken, Otto Abt, Charles Hindenlang, 
Walter J. Moeschlin, Hans R. Schiess, der blut- 
jungen Meret Oppenheim und anderen gehörte 
auch Kurt Seligmann zu diesem Kreis. Man traf sich 
täglich in einem — längst verschwundenen — Neben- 
lokal des Kunsthalle- Restaurants, das in seiner 
Ausstattung ein wenig an ein fasnächtlich motivier- 
tes Gruselkabinett erinnerte. Aus diesem Kreis ver- 
abschiedete sich der Möbelfabrikantensohn Kurt 
Seligmann, bevor er sich richtig formiert hatte. 
Aber das spezifische Basler Kulturerbe blieb für den 
Bewunderer des Zeichners Urs Graf stets lebendig. 
«Bäle...c’est encore et toujours Holbein, Erasme, 
Frobenius, Melanchthon. Et c’est dans la culture de 
ma ville natale que mon subconscient me conduit 
toujours lorsque ]’essaie de r6aliser mes composi- 
tions soi-disant abstraites ou imaginatives. II! me 
semble entendre encore, au creux de mon oreille, 
les bourdonnements sourds et severes des enormes 
tambours qui retentissent le jour du Carnaval.» 
Künstlerisch in Basel und in Genf ausgebildet, wo 
er den Mitstudenten Giacometti kennenlernt und 
porträtiert, hat Seligmann seit 1927 mit Unter- 
brechungen in Paris gelebt. 1930 setzt seine eigent- 
lich surreale Schaffensphase ein. Zunächst Mitglied 
der Gruppe «Abstraction-Creation» und eng be- 
freundet mit Hans Arp und Le Corbusier, stösst 
er 1935 zur Surrealisten-Gruppe um Andre Breton, 
an deren Ausstellungen er fortan beteiligt ist. 1939 
übersiedelt er nach New York, wo er in den Kriegs- 
jahren viele Pariser Surrealistenfreunde wieder 
trifft, vor allem Marcel Duchamp, Man Ray, Andre 
Masson, Max Ernst, Yves Tanguv. Bis 1960 lehrt er 
am Brooklyn College of Art. Neben dem malerischen 
Werk entsteht ein umfangreiches graphisches, vor- 
wiegend radiertes (Euvre. Lebhaft an Theater und 
Ballett interessiert, hat sich Seligmann auch der 
Bühnenausstattung gewidmet, so für « Die vier 
Temperamente» (Paul Hindemith; George Balan- 
chine), «The Golden Fleece» (Hanya Holm; New 
York City Ballet) und «The Unicorn, the Gorgon 
and the Manticore» (Gian-Carlo Menotti). Am 
2. Januar 1962 fand man Kurt Seligmann, das 
Gewehr neben sich, tot vor der Türe seiner Farm 
in Sugar Loaf, New York. 
Seligmann war nicht nur Maler, Zeichner, Bühnen: 
künstler und Illustrator (Lautrgamont, Marquis de 
Sade, Ödipus); er hat auch eigene dichterische und 
essayistische Publikationen herausgegeben. Auf 
ainem Gebiet wurde er zum eigentlichen Kenner: 
der Geschichte der Magie. Er besass die wohl 
grösste Bibliothek zu Fragen des Aberglaubens und 
der «geheimen Künste». 1948 veröffentlichte er in 
New York «The History of Magic», die mehrere 
Auflagen erlebt hat (deutsch: «Das Weltreich der 
Magie», Wiesbaden 1958). Die Beschäftigung mit 
Aberglauben und Magie, mit Geheimreligionen, 
<abbala, Symbolik, Emblematik und so fort haben 
stark auf Seligmanns künstlerisches Werk ein- 
gewirkt. «Als Maler beschäftigte ich mich besonders 
mit den ästhetischen Werten der Magie und ihrem 
Einfluss auf die schöpferische Phantasie des Men- 
schen. Was uns von den alten Völkern über- 
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