Volltext: Jahresbericht 1979 (1979)

oder Genreszenen, sondern sie setzen sich wie ein 
Puzzle aus der Addition von einzelnen interpretie- 
renden Schritten zu einem Gesamtbild zusammen. 
Der Künstler schaut dabei nie auf die ganze Szene. 
er ist während der Arbeit selbst darauf gespannt, 
was einer bereits interpretierten Form antwortet. 
Die Figuren und Gegenstände, die er aus dem 
Muster herausliest, ergeben eine neue, ihm vorher 
nicht bewusste Realität. «Man kann sich vorstellen, 
die Welt rekonstruiert sich, rekonstituiert sich nach 
Passage eines Siebes, eines Musters, einer Netz- 
haut im Grossen, und was sich dann wieder zusam- 
mensetzt, gibt eine neue Deutung.) 2 
Die entstehenden Figuren treten selten in Beziehung 
zueinander. Meist bleiben sie isoliert, und ihre 
Gesten oder Handlungen sind schwer zu deuten. 
Der Betrachter, an das Lesen von zusammen- 
hängenden Szenen mit aufschlüsselbaren Gesten 
gewöhnt, fühlt sich ständig aufgerufen, Beziehungen 
zwischen dem scheinbar Beziehungslosen herzustel- 
len, und er wird angeregt, eigene Assoziationen in 
die vom Künstler noch frei gelassenen Felder zu 
projizieren. Thomkins spricht gern von «Permanent- 
szene», die seiner Meinung nach «bei der Arbeit und 
bei der Betrachtung, die ja hoffentlich eine weitere 
Interpretation ist, beliebig lange funktionieren) soll. © 
In der vorliegenden Lithographie kommt plötzlich so 
etwas wie eine Gerichtsszene zum Vorschein, in der 
die weibliche Figur in der Mitte links die Anwältin 
zu verkörpern scheint. Das löst bei Thomkins den 
Titel «gesetzestricker) aus. Der Titel wird meist im 
nachhinein gegeben. Er ist nicht unbedingt die 
Summe des Bildes, sondern kann sich auf einzelne 
Elemente beziehen. Er ist ein weiterer Interpreta- 
tionsschritt, und der Künstler ist sozusagen der 
erste Betrachter und somit der erste Deuter seines 
Werkes. «Verbal versuche ich oft nachträglich, in 
der Form eines Palindroms etwa, die Sache zu fas- 
sen und zurückzudenken. ... Wenn in der Zeich- 
nung etwas erscheint wie ein Aufgebahrter, eine 
Katafalk-Situation, dann kommt es zum Begriff 
„Bahre“. und dieses Wort wird nun palindromisch 
behandelt, „BAHRE: BÜRDE DRÜBER HAB“ als Bild- 
titel.»4 Der Titel «gesetzestricker) gibt die Vieldeutig: 
keit der Szene zu erkennen. Man kann ihn lesen als 
«Gesetze-Strickern oder als «Gesetzes-Trickern. Das 
Gesetz ist das Muster. Die Figuren müssen sich in 
den gesetzesmässigen Wiederholungen bewegen, 
versuchen jedoch, sich nicht in den Maschen des 
Gesetzes zu verfangen, sondern sich zu befreien, ja 
sogar gegen das Gesetz zu <tricksen>». Beide Pole 
sind in dem Blatt angesprochen. Eine weitere 
Dimension ergibt sich dadurch, dass die «Gerichts- 
szene) suggeriert, in welche Gefahr der Einzelne 
geraten kann, wenn er in das Labyrinth der Ge- 
setzeswelt verstrickt wird. Andererseits wird mit 
dem Titel auch auf die Arbeitsweise des Künstlers 
angespielt: Thomkins <strickt» das Bildnetz, das 
Gesetz, und <trickst» seine Figuren in die Szene hin: 
ein, verbindet sie mit dem Prozesshaften. 
Auf die Frage, was für ihn «Kunst» heisse, antwor- 
tete Thomkins einmal: «Kunst macht aus etwas 
etwas anderes, aus Realem Fiktives, aus Fiktivem 
Reales. Kunst ist homogen, aus Gleichem ent- 
wickelt, interpretierend entstanden.) 5 Der Künstler 
braucht einen Anregungsboden, um ins Produzierer 
zu kommen. Das kann beispielsweise die Technik 
der <«Lackskins)» sein, bei der die auf einer 
Wasseroberfläche sich ausbreitenden Lackfäden 
durch modellierendes Eingreifen strukturiert 
werden, oder das Werk eines anderen Künstlers, 
das ihn zu Verwandlungen inspiriert, oder ein Wort 
das seine Phantasie reizt, durch Anagramme und 
Palindrome alles auszuprobieren, was an Neuem, 
Unbekanntem in ihm steckt, oder, wie im vorliegen- 
den Fall, das Rapportmuster, das seine Kreativität ir 
Gang setzt. Die vorgeschaffenen Strukturen bilden 
die Versatzstücke, die etwas auslösen, was latent 
an Erinnerungskontexten vorhanden ist und was im 
Hineinsehen und im Interpretieren dieser Strukturen 
zum Vorschein kommt. 
Ähnliche Arbeitsmethoden haben bereits die Sur- 
realisten praktiziert. Beispielsweise liessen die bei
	        
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