oder Genreszenen, sondern sie setzen sich wie ein
Puzzle aus der Addition von einzelnen interpretie-
renden Schritten zu einem Gesamtbild zusammen.
Der Künstler schaut dabei nie auf die ganze Szene.
er ist während der Arbeit selbst darauf gespannt,
was einer bereits interpretierten Form antwortet.
Die Figuren und Gegenstände, die er aus dem
Muster herausliest, ergeben eine neue, ihm vorher
nicht bewusste Realität. «Man kann sich vorstellen,
die Welt rekonstruiert sich, rekonstituiert sich nach
Passage eines Siebes, eines Musters, einer Netz-
haut im Grossen, und was sich dann wieder zusam-
mensetzt, gibt eine neue Deutung.) 2
Die entstehenden Figuren treten selten in Beziehung
zueinander. Meist bleiben sie isoliert, und ihre
Gesten oder Handlungen sind schwer zu deuten.
Der Betrachter, an das Lesen von zusammen-
hängenden Szenen mit aufschlüsselbaren Gesten
gewöhnt, fühlt sich ständig aufgerufen, Beziehungen
zwischen dem scheinbar Beziehungslosen herzustel-
len, und er wird angeregt, eigene Assoziationen in
die vom Künstler noch frei gelassenen Felder zu
projizieren. Thomkins spricht gern von «Permanent-
szene», die seiner Meinung nach «bei der Arbeit und
bei der Betrachtung, die ja hoffentlich eine weitere
Interpretation ist, beliebig lange funktionieren) soll. ©
In der vorliegenden Lithographie kommt plötzlich so
etwas wie eine Gerichtsszene zum Vorschein, in der
die weibliche Figur in der Mitte links die Anwältin
zu verkörpern scheint. Das löst bei Thomkins den
Titel «gesetzestricker) aus. Der Titel wird meist im
nachhinein gegeben. Er ist nicht unbedingt die
Summe des Bildes, sondern kann sich auf einzelne
Elemente beziehen. Er ist ein weiterer Interpreta-
tionsschritt, und der Künstler ist sozusagen der
erste Betrachter und somit der erste Deuter seines
Werkes. «Verbal versuche ich oft nachträglich, in
der Form eines Palindroms etwa, die Sache zu fas-
sen und zurückzudenken. ... Wenn in der Zeich-
nung etwas erscheint wie ein Aufgebahrter, eine
Katafalk-Situation, dann kommt es zum Begriff
„Bahre“. und dieses Wort wird nun palindromisch
behandelt, „BAHRE: BÜRDE DRÜBER HAB“ als Bild-
titel.»4 Der Titel «gesetzestricker) gibt die Vieldeutig:
keit der Szene zu erkennen. Man kann ihn lesen als
«Gesetze-Strickern oder als «Gesetzes-Trickern. Das
Gesetz ist das Muster. Die Figuren müssen sich in
den gesetzesmässigen Wiederholungen bewegen,
versuchen jedoch, sich nicht in den Maschen des
Gesetzes zu verfangen, sondern sich zu befreien, ja
sogar gegen das Gesetz zu <tricksen>». Beide Pole
sind in dem Blatt angesprochen. Eine weitere
Dimension ergibt sich dadurch, dass die «Gerichts-
szene) suggeriert, in welche Gefahr der Einzelne
geraten kann, wenn er in das Labyrinth der Ge-
setzeswelt verstrickt wird. Andererseits wird mit
dem Titel auch auf die Arbeitsweise des Künstlers
angespielt: Thomkins <strickt» das Bildnetz, das
Gesetz, und <trickst» seine Figuren in die Szene hin:
ein, verbindet sie mit dem Prozesshaften.
Auf die Frage, was für ihn «Kunst» heisse, antwor-
tete Thomkins einmal: «Kunst macht aus etwas
etwas anderes, aus Realem Fiktives, aus Fiktivem
Reales. Kunst ist homogen, aus Gleichem ent-
wickelt, interpretierend entstanden.) 5 Der Künstler
braucht einen Anregungsboden, um ins Produzierer
zu kommen. Das kann beispielsweise die Technik
der <«Lackskins)» sein, bei der die auf einer
Wasseroberfläche sich ausbreitenden Lackfäden
durch modellierendes Eingreifen strukturiert
werden, oder das Werk eines anderen Künstlers,
das ihn zu Verwandlungen inspiriert, oder ein Wort
das seine Phantasie reizt, durch Anagramme und
Palindrome alles auszuprobieren, was an Neuem,
Unbekanntem in ihm steckt, oder, wie im vorliegen-
den Fall, das Rapportmuster, das seine Kreativität ir
Gang setzt. Die vorgeschaffenen Strukturen bilden
die Versatzstücke, die etwas auslösen, was latent
an Erinnerungskontexten vorhanden ist und was im
Hineinsehen und im Interpretieren dieser Strukturen
zum Vorschein kommt.
Ähnliche Arbeitsmethoden haben bereits die Sur-
realisten praktiziert. Beispielsweise liessen die bei