Volltext: Jahresbericht 1979 (1979)

Reihenfolge der Eingänge wurden die Kunstwerke 
angeordnet. Schon das allein hat ein spontanes 
Nebeneinander der verschiedensten Stilarten und 
Techniken zur Folge. Der Pluralismus der heutigen 
Kunst kommt hier in Miniaturausgabe voll zur Gel- Überblickbar ist das gesamte Museum eigentlich erst 
tung. 500 Künstler schufen Kleinstwerke für die in Buchform. Die Publikation, in der die Werke des 
Fächer, Ed Kienholz machte den Sockel für den Schubladenmuseums in alphabetischer Reihenfolge 
Kasten. Die Auswahl konnte nicht anders als sub- ihrer Autoren abgebildet sind, ist die zwingende Er 
jektiv sein. Distel lud jene Künstler ein, die ihm die gänzung zum Original. Dieses Projekt ist ein Gesamt: 
heutige Kunstszene repräsentativ zu vertreten schie- kunstwerk, und es macht - das ist das besonders 
nen. (Der Akzent liegt auf den sechziger und sieb- Amüsante daran - aus einer Institution, die dazu 
ziger Jahren.) Da pflegen Arbeiten berühmter Auto: geschaffen ist, Kunst zu bewahren und zu zeigen, 
ren Nachbarschaft mit wenig bekannten, sogar un- symbolhaft selbst ein Kunstwerk. Distel selbst hat 
bekannten Künstlern. Plastiker, Maler verschieden- denn auch von einem <«objet-mus&e)> gesprochen. 
ster Richtungen, Objektmacher, Konzeptkünstler (Ma creation personnelle est d’ordre conceptuel, 
sind in diesem zeitgenössischen «Musge imaginaire) elle reside sans lid&e de «comprimer> un ensemble 
vereinigt, das als kleinstes Museum der Welt die d’ceuvres dans !’Objet-Mus&e», sagte er in einem 
breiteste Information über die aktuelle Kunstszene Interview. Distels Schubladenmuseum ist nicht das 
übermittelt. Möglich ist alles - die Beschränkung erste Museum, das ein Künstler kreiert hat. An der 
auf das kleine Format hat durchaus keine Grenzen Documenta V 1972 - wo die Sammlung des 
des Gestaltens bedeutet: da präsentiert sich Wolf Schubladenmuseums im Anfangsstadium bereits 
Vostell mit einbetoniertem eigenem Blut, Joseph gezeigt wurde —- stand Ben Vautiers «Schrank;, 
Beuys stellt seinen Zehennagel als «Mond) aus. Marcell Broodthaers «Musge des Aigles» und Claes 
Arman schuf eine winzige Akkumulation aus Zahn- Oldenburgs «Mouse-Museum. Sie alle haben ihren 
rädern, und Hilla und Bernd Becher verkleinerten Ausgangspunkt in Duchamps «Valise». Neu aber ist 
eine Photo ihrer «Wassertürme>». Es gibt Aquarelle, die Idee, ein «Muse imaginaire» der zeitgenössi- 
Ölbilder, Collagen. Chuck Close vermochte auch in schen Kunst zu schaffen, an dem andere Künstler 
Kleinstformat seine Technik anzuwenden, die er für mitarbeiten und das Konzept des Erfinders dadurch 
seine Grossformate benutzt: er spritzte ein Porträt überhaupt erst realisierbar machen. Die Idee zu 
auf Papier. John Chamberlain arbeitete mit Kunst- Sammlungen in Miniaturformat hat die Kunst- 
stoff, Eduardo Chillida mit Holz, Lynn Chadwyck mit geschichte schon immer beschäftigt. Peter Killer ha: 
Bronze, Rafael Benazzi mit Elfenbein. Die Gefahr, in seiner Einleitung zum Katalog des Schubladen- 
dass durch die Reduzierung auf Spielkastenformat museums auf mehrere Vorläufer hingewiesen. Die 
die Werke verniedlicht werden, ist durch die spezifische Form des Schubladensystems freilich 
Qualität, die von den Künstlern eingehalten wurde, blieb der Distelschen Erfindung vorbehalten. Mit 
ausgeschaltet. Viele der Künstler kreierten direkt auf Ironie und tieferer Bedeutung betrachtet, personi- 
den Schubladenraum hin. Dann kann man wirklich fiziert sich in ihm ein Hilfsmittel der Kunst- 
von Kleinkunstwerken sprechen. Andere wiederum geschichte, zugegebenermassen verdammt und 
reduzierten grosse Arbeiten. Jeder der Künstler heimlich immer wieder benutzt: es schubladisiert. 
aber ist mit einer persönlichen ünd für ihn typischen Das Schubladenmuseum wird zur originellsten und 
Arbeit präsent. Bezeichnenderweise gibt es keinen geistreichsten Metapher des Schubladengedankens 
einzigen Künstler der Hard-Edge- und Colourfield- in der Kunstgeschichte! 
Painting im Schubladenmuseum. Diese Künstler 
sahen - und wohl zu Recht - keine Möglichkeit, 
ihre Malerei, die auf die grosse Fläche konzipiert ist 
in ein Miniformat umzusetzen. 
Erika Billeter 
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