Volltext: Jahresbericht 1988 (1988)

hineinreicht. Was als Idee von Wachstum und Frucht- 
barkeit mit der Blattpflanze angedeutet ist, wird in wei- 
teren Zeichnungen mit «Baummenschen», das heisst 
Bäumen mit menschlichen Köpfen, verdeutlicht.! Sie 
verkörpern die Vorstellung von Leben, das von einer 
Form in eine andere übergeht. 
Dadurch, dass die Darstellung nicht mehr logischen 
und linear narrativen Gesetzen folgt, entsteht eine Atmo- 
sphäre, die der Betrachter mehr assoziativ als rational 
erfassen kann und die ihm neue Formen der Erkenntnis 
Sffnet. Mit der irrealen Durchdringung nicht zusammen- 
gehörender und grössenmässig unterschiedlicher Bild- 
elemente und mit der Konzentration auf wenige gross 
gesehene «Zeichen» gelingt es Cucchi, diese geistigen In- 
halte in überzeugender Weise ins Bild zu bringen. Dem 
Berggipfel steht in vielen Zeichnungen der Abgrund 
gegenüber, dem Aufsteigen das Stürzen und der Abstieg. 
Das Hinabsteigen in die Tiefe, in die Unterwelt, wird 
meist mit den Vorstellungen von Wiedergeburt und Un- 
sterblichkeit verbunden. Es kann aber auch die Suche 
nach dem eigenen Selbst bedeuten.? 
Seit den frühesten Arbeiten gehört auch das Haus 
zum festen Bestand von Cucchis Bildwelt. Es ist nicht 
nur ein Ort des Schutzes und der Zuflucht, sondern es 
dehnt sich auch — meist langgezogen und schmal — zwi- 
schen verschiedenen Räumen und Zeiten. Als nach oben 
gerichteter Stab, wie in einigen unserer Zeichnungen, 
wird es zur Metapher, in der die Suche des Menschen 
nach Transzendenz zum Ausdruck kommt. Auch das 
immer wiederkehrende Motiv des Baumes, den Cucchi 
in seiner emporragenden Grösse betont — meist wählt er 
dabei die schlanke, hohe Zypresse — wird zum Bild, in 
welchem der Mensch seine existentielle Situation zwi- 
schen Erde und Himmel wieder erkennen kann. 
In drei der angekauften Zeichnungen sind grosse 
stein- oder eiförmige Objekte die beherrschenden Bild- 
zlemente. Diese Zeichen, die sich einer eindeutigen Inter- 
pretation entziehen, sind zu einem regelrechten Leitmotiv 
in Cucchis Werk geworden. Man empfindet sie zuweilen 
wegen der harten Konsistenz als Steine, in anderen Blät- 
tern erscheinen sie als lebendige Materie, die eine weib- 
üche Symbolik nahelegen, oder sie lassen als schwebende 
Formen an Wolken denken. Je nach Bildzusammenhang 
wandeln sich ihre Erscheinungsformen und ihre Bedeu 
tungen. Immer aber geht etwas Geheimnisvolles, oft auch 
etwas Unberechenbares und Bedrohliches von ihnen aus 
Eine grossformatige Zeichnung von 1980, in der ein Mann 
sich mit den Händen wie beschwörend diesem Stein 
nähert, als ob er das Geheimnis, das er enthält, lüfter 
wolle, trägt den Titel «Etwas Heiliges zwischen den Hän- 
den».? Steine sind auch häufig Bilder für das Selbst unc 
symbolisieren vielleicht «das einfachste und zugleich 
tiefste Erlebnis von etwas Ewigem und Unwandelbarem, 
das ein Mensch haben kann».* Innerhalb der vielfältigen 
Symbolik des Steins ist speziell der Stein der Weisen ein 
berühmtes Bild der inneren Ganzheit. 
In den beiden Zeichnungen von 1985 und von 1986 
(Abb. 18, 21) bringt eine geheimnisvolle Energie den 
«Stein» zum Schweben, und er erscheint als die Verkör- 
perung aller Sehnsüchte, die sich auf das Transzendente 
richten. Auffallend ist in der einen Zeichnung, dass das 
stein- oder wolkenförmige Objekt, das in den bisherigen 
Blättern als kompakte schwarze Masse erschien, sich nun 
an einer Stelle öffnet und Einblick in sein Inneres ge- 
währt. Was das Ei in diesem augenförmigen Loch aus- 
brütet, ist noch nicht zu erkennen. In späteren Zeich- 
nungen werden in den Öffnungen Tiere sichtbar, ein 
kleiner Elefant oder ein Kamel.> Cucchi schreibt in einem 
Gedicht «Un’immagine oscura» 1982, das sich auf die 
grossformatige Radierung gleichen Titels bezieht, in deı 
ebenfalls ein grosser schwarzer Stein über der Landschafli 
schwebt: «Ein unendlich weites Meer von schwarzen 
Steinen, die verschlungen werden, um sich auf geheim: 
nisvolle Weise in eine schwarze Erscheinung am Him- 
mel... zu verwandeln.» Das deutet darauf hin, dass deı 
«Stein» am Kreislauf von Tod und Auferstehung teilhat. 
Der in der Leere aufgerichtete Stein in der Zeichnung 
von 1986 (vgl. Abb. 19) weckt Assoziationen an das Welten- 
Ei, das als Keim aller Schöpfung, als Lebensprinzip gilt, 
oder auch an den Gral, der im allgemeinen das Aller- 
heiligste und die Wasser des Lebens symbolisiert. Die 
niedergebeugten Figuren nähern sich dem Wasserlauf 
wie Dürstende. Ihre expressiven Körperhaltungen erin- 
nern im ersten Augenblick an die berühmte Figur des 
«Gestürzten», 1915/16 von Wilhelm Lehmbruck, die die- 
ser in zahlreichen Zeichnungen vorbereitet hat.° Doch
	        
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