Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

ganze tatsächliche Dasein des Menschen so wurzeltief, dass 
schon im alten Ägypten, als erstmals eine orthogonal 
geordnete Bildwelt entstand, die Umkehrung zur Kenn- 
zeichnung der zum Nicht-Sein Verdammten diente. Und 
so ist es über die Schandgemälde von an den Füssen 
Gehenkten in der italienischen Renaissance bis zu Klees 
spätem Stilleben mit der Urne geblieben, das sich umge- 
dreht als modernde Unterweltslandschaft entpuppt. Aber 
es gehört zum Steigerungs- und Innovationszwang der 
Moderne, dass das Selbstverständliche und damit für die 
Wahrnehmung Abgenutzte aufgebrochen und im uner- 
wartet Anderen eine ursprünglich frische Sensibilität zu- 
rückgewonnen oder wenigstens gesucht wird. Daraus resul- 
tiert die bezeichnende Spannung von manieristisch über- 
steigerter Künstlichkeit und gesuchter Primitivität: ein kon- 
stitutives Merkmal vieler moderner Kunst, das nur von 
Wenigen so klar erkannt und so überzeugend zur Geltung 
gebracht wurde wie von Baselitz. 
Macht man mit dem Diptychon kurz die Gegenprobe 
und stellt das Kopfständige auf die Füsse, um im konkreten 
Falle zu sehen, was die Umkehrung bewirkt, zeigt sich zwei- 
erlei: die Figur gewinnt an plastischer Präsenz und wird 
zugleich banaler, das Stilleben entfaltet sich überraschend 
räumlich von der Tischecke nach hinten, so dass das 
Schwarz nicht mehrals Fläche auf der Bildtafel, sondern als 
Raumdunkel wirkt, das sich hinter dem bräunlichen Bin- 
nenrahmen in die Tiefe öffnet. Den zwei Flügeln sind 
somit die beiden wesentlichen Aspekte der dreidimensio- 
nalen Illusion zugeordnet: Körper und Raum, und 
zugleich die spezifischen Kunstmittel, die zu ihrer Errei- 
chung dienen: Linie und Modellierung respektive Farbe 
und Tiefe. Damit erreichen wir einen neuen Verzweigungs- 
oder Knotenpunkt, der eine weitere Sinnebene einführt: 
die inhaltliche Aussage. 
Dass in der modernen Kunst der gegenständliche Inhalt 
völlig irrelevant sei, gehört allerdings zu den beliebtesten 
kunstliterarischen Klischees, und Baselitz haut selbst tapfer 
in diese Kerbe: alles nur Vorwand und Anlass für Malerei. 
Nachdem das ganz überwiegende Interesse der menschli- 
chen Psyche an der Wahrnehmung von Gegenständen und 
der Kampf der Künstler, solche oberflächliche Sehensweise 
zu überwinden, bereits festgestellt wurde, erstaunt diese 
extreme Einseitigkeit, dieses Überbetonen der formalen 
Aspekte kaum. Tatsächlich machen sie ja das Eigentliche 
der Kunst aus, und in den siebziger Jahren beherrschten sie 
die Produktion von Baselitz ziemlich unumschränkt. Aber 
gerade die zunehmend virtuose Sicherheit in der Handha- 
bung der Peinture scheint gegen Ende des Jahrzehnts das 
Bedürfnis nach einer Neubestimmung geweckt zu haben; 
das für seine Malerei so merkwürdig nichtssagende «Mani- 
fest» von 1978 «Vier Wände und ein Oberlicht» mag als 
Schritt in diese Richtung gewertet werden. 
Der Durchbruch entwickelte sich erst im folgenden 
Jahr. Im Hinblick auf die Biennale 1980 malt Baselitz drei 
Diptychen «Deutsche Schule», «Die Familie» und «Das 
Atelier», die in ihrer thematischen Konzentration auf Her- 
kunft und Nation, Ehe und Heim, Maler und Werk zu 
wichtige Bereiche des Menschen und Künstlers anspre- 
chen, als dass ihr Inhalt gleichgültig sein könnte. Dies wird 
unterstrichen durch das im gleichen Zusammenhang ent- 
standene «Strassenbild», eine kürzlich vom Kunstmuseum 
Bonn erworbene monumentale Gruppe von 18 Tafeln, die 
als Welt der äusseren Begegnungen zum inneren Kreis der 
Diptychen tritt. «Das Atelier» wäre als das zentrale Stück 
dieses manifestartigen Werkensembles, vielleicht des 
bedeutungsreichsten der bisherigen Produktion des Künst- 
lers, zu interpretieren; es sel hier nur bemerkt, dass es 
sowohl inhaltlich wie formal die Klammer der beiden 
Serien bildet. Das Thema konfrontiert den Maler und sein 
Werk, exemplifizıert am Stilleben, das dank seiner inhaltli- 
chen Neutralität und ästhetischen Manipulierbarkeit seit 
Chardın und Cezanne als Musterbeispiel für reine Malerei 
dient. In seinem primären Charakter als Bild wird es betont 
durch den Binnenrahmen, der auch im «Strassenbild» eine 
massgebliche Rolle als Kompositionsmittel spielt. Dort 
umgibt er einzelne Figuren, die im Charakter dem Maler 
im «Atelier» gleichen, auch wenn sie impulsiver und sum- 
marischer gegeben sind. Am nächsten aber stehen ihm die 
beiden Männer mit Tafeln, die sich sowohl durch ihren 
weisslich-grauen Grund gegenüber dem üblichen blauen 
und bräunlichen als auch durch das Fehlen der Rahmung 
von den anderen Teilen des Zyklus unterscheiden. 
Die Gestalt des Malers präsentiert sich im Profil seinem 
Werk zugewandt; dazwischen liegen die symbolischen 
Werkzeuge Blitz und Beil, die das herrische und aggressive 
Verhältnis des Schöpfers zum Geschöpf bezeichnen. In
	        
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