Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

einer emphatischen Ausdruckshaltung wirft er inspiriert 
den Kopf in den Nacken und reisst den Arm in die Höhe: 
«Haltung» im doppelten Sinn war Baselitz schon bei seinen 
«Helden»-Bildern der mittleren sechziger Jahre wichtig; die 
Ambivalenz von Heroismus und Schwäche ist geblieben. 
Haltung gehört zu den zentralen menschlichen Befind- 
lichkeiten und teilt sich als psycho-physische Einheit dem 
Betrachter spontan und eindringlich mit; der sprachlichen 
Analyse kaum zugänglich, zählt sie zu den wichtigsten, der 
bildenden Kunst ganz eigenen Ausdruckswerten. Als 
«Schilderer» hält der Maler ein Schild mit runenhaften Zei- 
chen hoch, das an Bilder seines alten Dresdener Freundes 
Penck erinnert; an die Stelle der Finger tritt als ihr Werk ein 
weisser Farbstrich. Die Tragstange scheint in den Körper 
einzudringen und hinten in der fussförmigen Stütze eine 
Fortsetzung zu finden: ein anspielungsreicher, aber kaum 
klar zu deutender Sachverhalt. Ebenso ambivalent liest 
sich das Verhältnis des Protestschildes zum Stilleben: rät- 
selhaft aus dem Innern wachsendes Urbild und distanziert 
objektivierte Verwirklichung oder forderndes Engagement 
gegenüber autonom abgehobenem Kunstwerk? Oder 
bedeutet der impulsiv mit den Fingern darüber gezogene 
Strich gar die Verneinung und Ablehnung der Botschaft 
des Schildes? Trotz der extremen Gestik ist offensichtlich 
das «clare et distincte» der klassischen Rhetorik dem <je 
dunkler desto inniger» Hamanns und des Sturms und 
Drangs gewichen. 
Merkwürdig unsicher stellt sich die Beziehung zum 
Boden dar, der ebensowenig wie sonst irgendein räumli- 
ches Flement angedeutet wird. Das Bein steht so vor allem 
zum weissen Winkel in Beziehung: Tritt zum Aufsteigen, 
Betschemel zum Knien oder hindernder Block? In einem 
Raum seines Wohnsitzes Derneburg hat Baselitz die Ver- 
grösserung eines manieristischen Kupferstiches mit einer 
Kerkerszene aufgehängt: die Füsse der Gefangenen stecken 
in schweren Holzblöcken. Gleich ergeht es dem «Modell 
für eine Skulptur», der ersten Plastik von Baselitz, die von 
einer Skulpturenausstellung in der Kunsthalle Bern ange- 
regt insbesondere unter dem Eindruck der Zürcher 
Matisse-Reliefs entstand und schliesslich an der Biennale 
allein und anstelle des «Strassenbildes» und der drei Dipty- 
chen im deutschen Pavillon gezeigt wurde. Eine auffällige 
Ähnlichkeit in Haltung und Körperbildung verbindet den 
Maler des «Ateliers» mit dieser Figur, die sich mühsam und 
ekstatisch aus dem rohen, liegenden Holzquader auf- 
richtet, in dem die erst aufskizzierten Beine noch unge- 
schaffen verborgen sind. Gemeinsam ist nicht nur die neue 
plastische Energie und Bestimmtheit, die von der Skulptur 
in die Malerei zurückwirkt, sondern das Thema des 
Ursprungs im schöpferischen Akt, der zugleich auch den 
Schöpfer neu bestimmt. 
«Gruss aus Oslo» 
Die Suche nach dem Ursprung bestimmt Baselitz bei 
seiner Arbeit am Holz allgemein: schon rein vom natürli- 
chen Werkstoff, der anstrengenden körperlichen Tätigkeit 
und dem gegenständlichen Charakter des Resultats hebt 
sich die Holzbildhauerei als urtümlich direkt von der raffı- 
nierten Malerei mit ihren unendlichen illusionistischen 
Möglichkeiten ab. Das Medium bietet selbst die Energie 
steigernden Widerstände, die bei Bildern erst künstlich 
errichtet werden müssen; viel weniger abgenützt, ist hier 
die protestantische «Unmittelbarkeit zu Gott» eher zu 
erreichen. Baselitz ist es wichtig, beim Arbeiten die —natür- 
lich illusorische — Vorstellung zu haben, als erster und ein- 
ziger solche Dinge zu machen: und tatsächlich nähern sich 
ein paar seiner überhaupt seltenen Skulpturen jener frag- 
losen Selbstverständlichkeit und Präsenz, die prähistori!- 
sche oder aussereuropäische Kultfiguren auszeichnen. 
Auch dem «Gruss aus Oslo» eignet dieses Kultbildartige 
in hohem Masse; die übermenschliche Grösse und die 
frontale Symmetrie, die bannend hervorquellenden 
Augen, die sich dem Betrachter gewaltig entgegenwöl- 
benden Brüste, die barbarisch rot bemalte Eiform des 
Kopfes üben eine magische Wirkung aus. Der Titel verweist 
auf Edvard Munch, dessen späte, existentielle Extremsitua- 
tionen malerisch reflektierende Selbstbildnisse Baselitz 
stark beschäftigten und zu mehreren Bildern anregten. Aus 
diesen blicken frontal ähnlich starr aufgerissene Augen; die 
gigantische Tropfenform der Nase erinnert an die auf die 
Spermen seiner «Madonna» zurückgehenden, organisch- 
jugendstilhaften Blasen, die Baselitz in anderen Gemälden
	        
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