Joseph Beuys
Es ist dies sicher die für lange Zeit bedeutendste Hommage
an die wichtigste, vielschichtigste und radikalste Künstler-
persönlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die
Ausstellung mit 79 Objekten, Skulpturen, Plastiken und
Rauminstallationen und dem einen zeichnerischen Werk,
bestehend aus 456 Arbeiten, ist vorrangig als Energiefeld
angelegt. Die Autonomie der Einzelwerke wird von der
inszenatorischen Präsenz respektiert, ist aber Teil eines
erweiterten Spannungsfeldes, an dem der plastische und
zeichnerische Impuls gleichermassen wirken. Nach Beuys’-
schem Rezept — «Ich stelle ab und nicht aus» — wird der
Raum besetzt. Ein skulpturales Konzert der in offener Auf-
stellung präsentierten Batterien, Fonds, Richtkräfte emp-
fängt den Besucher, eine Vernetzung von Geraden, Diago-
nalen, Liegendem, Aufstrebendem, Schwerem, Leichtem,
ia von Davonschwebendem aus Holz, Kupfer, Fett, Filz,
Eisen, Bronze, Objets trouves, Wandtafeln und -zeitung,
Schriften, von tönenden und stummen Instrumenten, von
Organischem und Anorganischem, von Geometrischem
und Anthropomorphem., Die gebauten Räume mit gege-
benen Massen führen durch Wärmehöhle, offenen Stein-
bruch, Innenraumlandschaft, nasse Wäsche zum stillsten
Pol, den fünf Ölwannen aus unserer Sammlung, in denen
stetig und unhörbar Fluides Verhärtetes durchdringt und
aufweicht. Der Parcours von Laut zu Still und von der Stille
zurück in die Richtungskakophonie, die sich mit gewon-
nener Nähe in ordnende Appellhaftigkeit transformiert,
wird zum unorthodoxen Stationenweg, zur Initiation in die
Schichten plastischer Gestaltung, Synthesen autobiogra-
phischer, energetischer, unterweisender Impulse. Beuys,
und das ist seine grosse Freiheit, macht nicht aus Kunst
wieder Kunst, sondern vertraut seiner Intuition und den
eigenen Schlüssel- und Schwellenerlebnissen. Aus ihnen
zieht er die Kraft zum «Aufruf zur Alternative» an jeden
Menschen, auf dass sie an der «Sozialen Plastik», dem
Gesamtkunstwerk mitarbeiten, ihre Kreativität als Kapital
in diese einbringen. Die kleineren Räume sind Behältnisse
für Intimeres, die innovativ genutzten Vitrinen, auf Augen-
höhe angehobene Eigenräume mit den Laboratoriumskon-
stellationen prozessualen Gestaltens und die gezeichnete
Rechenschaft, dem umfangreichen Tagebuch über Geburt
und Evolution seines bildnerischen Denkens: die Aktivie-
rung der Mythen und Märchen, des kollektiven Gedächt-
nisses, der kosmischen Zusammenhänge, des Werdens
unserer Welt, die Transsubstantiation in eine Spiritualität,
die im neuen Menschen, in der chymischen Hochzeit von
Ratio und Intuition —von Europa und Asien —, im Evolu-
tionsschritt von der Erkenntnis zum Erzeugen Erfüllung
findet. Der Künstler als Therapeut, der Mensch und Gesell-
schaft Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Realitäten
vorlebt.
Der eindringliche Appell hat auf unerwartet viele
Menschen gewirkt. Die grosse Anzahl von Führungen,
Workshops, Übungen, ein permanentes Video-Angebot
und ein dreitägiger Film-Marathon haben mitgeholfen, das
Wissen um Beuys zu vertiefen und ihn als unermüdlichen
Beweger präsent zu machen. Der Sponsor — «Ein Kultur-
Engagement der SKA» — hat mit einer Reihe animierender
Massnahmen die Neugierde auf das «Phänomen Beuys»
intensiviert. Ihm ist auch zu danken, dass die aufwendige
Ausstellung dank eines namhaften Beitrages in dieser Form
durchgeführt werden konnte.
Angesichts der überreichen Beuys-Literatur und -Inter-
pretation stellte sich der Katalog der Herausforderung des
«Back to the Basics»: Ausgangspunkt für Text und Bild sind
Werke und Begriffe von Joseph Beuys.
Die Ausstellung wird nach Zürich im Museo Nacional
Reina Sofia in Madrid und im Musee national d’art
moderne, Centre Georges Pompidou, in Paris gezeigt.
Bereits jetzt ist klar, dass sie in Konzept und Durchführung
als «atmende Präsentation» die bisher vorherrschende Mei-
nung, dass es unmöglich sei, nach dem Tode von Beuys
seine Werke auszustellen, widerlegt und ad absurdum
geführt hat. HSz