Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

ses als Modell eines Feldaltars, auf dem die Landleute der 
Gottheit des Ortes die Erstlinge ihrer Ernten darbieten?®; 
ganz unmittelbar geht hier zur symbolischen Förderung 
der Fruchtbarkeit blühendes Leben in Verwesung, in 
Kompost über, berührt sich höchst ausdifferenzierte und 
strenge Gestalt mit Amorphem. 
Die Modelle, die uns so umfassend über die materielle 
Kultur des alten Ägyptens unterrichten, sind primär Grab- 
beigaben, Geräte zur Verwendung im Jenseits: stets hält 
die verwittert zerbrechliche Materialität, die bleiche weiss- 
liche Schlemmung der Fügungen Twomblys diesen 
Bedeutungshorizont wach. Modelle können aber auch 
Spielzeuge sein, die von der Schwere der materiellen Tat- 
sachen befreiten Dinge, die der ursprünglichen symboli- 
schen Weltaneignung des kindlichen Spiels dienen und so 
in ihrem reinen Wesen aufleuchten. Die Imagination 
macht hier das faktisch Fehlende der lebenspraktischen 
Funktionen wett, denn im geistigen Gebrauch lassen sich 
die engen Schranken der Bedingtheiten überschreiten in 
Räume, die dem Erwachsenen durch das Gedränge der 
Alltäglichkeiten meist verstellt sind. So bildet in der 
Moderne der Modellcharakter oft das wesentlich Vermit- 
telnde zwischen Kunst und Wirklichkeit; er entspricht 
dem Konzeptuellen der neuen Weltbilder und tritt an die 
Stelle der Abbildfunktion der realistischen Tradition. 
Sicher beruht das Faszinierende, das diese so schlichten 
und zugleich vielfältige Gedanken und Gefühle wecken- 
den Dinge ausstrahlen, nicht zuletzt darauf, dass 
Twombly diese elementare Dimension so rein zur Gel- 
tung bringt, ohne in leere Schemata zu verfallen. 
Modelle sind die Objekte in gewisser Weise auch als 
Skulpturen: Proportionierung, relative Grösse und Hier- 
archisierung der übereinander geschichteten Teile ent- 
sprechen zumal bei den früheren Werken der Massenver- 
teilung grosser Denkmäler. Damit kommen wir nach dem 
Material und dem Modellcharakter zum dritten Aspekt 
der Dinglichkeit dieser Objekte: ihrer Zugehörigkeit zur 
Gattung Skulptur. Sie stellen sich damit in ein weites Feld 
von Traditionen, Ansprüchen, Beziehungen, das hier nur 
angedeutet werden kann. Die Bedeutung des Modell- 
begriffs für die moderne Kunst wurde erwähnt, ebenso 
Picasso und Schwitters, die als Vorläufer für den Charak- 
‚er der Konstruktionen als «Bricolagen» im Allgemeinsten 
zu nennen sind. Die Beziehungen zu seinen Kollegen 
Rauschenberg und Jasper Johns wären zu untersuchen, 
die, von ihrem gemeinsamen Lehrer Motherwell angeregt 
- er publizierte eine Dada-Anthologie -, Dinge des 
Konsums ihren Werken einverleibten. Zwar greift auch 
T’wombily Strandgut auf, aber von so primärer Art, dass er 
schon dadurch der Ironisierung oder Heroisierung von 
Zivilisationsmüll durch die der Pop Art näher stehenden 
Künstler entgeht. Wie bereits beiläufig bemerkt, unter- 
scheiden sich umgekehrt diese schlichten Fundstücke 
durch ihre Lebenshaltigkeit prinzipiell von den Fabrika- 
ten der Minimal-Art, auch wenn sie sich wie diese oft geo- 
metrisch reinen Formen nähern. Noch eher wäre an eine 
Verwandtschaft mit deren Ahnherrn, Barnett Newman 
and dessen drei Stelen Here 7, II, IT zu denken, diesen 
emphatisch modernen und amerikanischen Antworten 
auf Giacomettis Grande figure. Gerade in dieser Bindung 
ans Existentielle und an eine ins Abstrakte gewendete 
anthropomorphe Anmutung stehen die tonnenschwere 
Stahlobjekte Twombly näher, auch wenn er deren 
geschichtslos abgehobenen Heroismus nicht teilt. 
Vielmehr müsste eine andere Entwicklungslinie der 
modernen Skulptur bedacht werden; sie führt von Gau- 
guin zu Giacometti und sucht wieder an das Kultbildhaf- 
te und Magische archaischer Figuren und Idole anzu- 
knüpfen. Bei den zahlreichen mythologischen Bezügen, 
die Twomblys Bildwelt durchweben, liegt diese Tradi- 
tionslinie nahe; hier zeigen sich denn auch formale Ver- 
wandtschaften, die über Äusserlichkeiten hinausgehen: 
das Festhalten an Einheit und Präsenz des Werkes, eine 
iierarchische Stufung der Teile, Frontalität, Verwesentli- 
chung der Elemente, auratische Ausstrahlung. Hier 
erweist sich der angeführte Vergleich mit dem «Feldaltar» 
als besonders fruchtbar: das Kultische und Numinose 
wird ins anonym Niederschichtige und naturwüchsig All- 
ägliche, die erhabene Form ins Spontane und unempha- 
isch Selbstverständliche gerückt, in dem die individuelle 
Regung nicht in der Prätention der subjektiven Geste ver- 
aarrt, sondern in eine allgemeinere Objektivität eingeht. 
Hier findet auch das Nicht-Anthropomorphe in der sonst 
;o völlig von der menschlichen Figur dominierten Skulp- 
tur seine alten Wurzeln: in Kultsteinen und Altären, in 
Menhiren, Obelisken und Omphaloi, in Grabmälern und
	        
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