Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

HINWEISE AUF 
EINIGE NEUERWERBUNGEN 
DIE WIEDERVEREINIGUNG 
VON OCHS UND ESEL 
Auch wenn der Begriff «Religion» nicht von dem lateini- 
schen «ligere» - «binden» - abzustammen scheint, hat sie 
offensichtlich viel damit zu tun: der Mensch steht immer 
in Beziehungen zu anderen Menschen, ist eingebunden 
in die Folge der Generationen und sucht - suchte ? — die 
Ausrichtung auf ein höheres, über den Alltag hinaus Ver- 
bindliches. Museen sind an sich Zeugnisse solchen Stre- 
vens, solcher geistiger und seelischer Bedürfnisse, und 
zumal das Kunsthaus ist voller Modelle, wie sich solche 
Bindungen konstituieren, aber auch wie sie sich lösen: 
Tradition, Revolution, Reformation — Überliefern, Zu- 
rückdrehen, Wiederformen — umreissen dieses Span- 
nungsfeld. 
Überlegungen über solche im Weiten wie im Nahen 
wichtige Entwicklungen drängen sich angesichts der bei- 
den Flügel eines Altares mit der Geburt Christi auf. 1925 
vermachte August Abegg dem Kunsthaus die Aussenseite 
des linken Flügels, auf dem neben Maria und Joseph die 
ainteren Teile von Ochs und Esel zu sehen sind;:! 1930 
erwarb Frau E. Escher-Abegg, dessen Schwester, auf An- 
regung von Wilhelm Wartmann die andere Hälfte von der 
Berner Familie von Steiger und stellte sie dem Kunsthaus 
zur Verfügung.? Nun haben sich die Nachkommen ihrer 
Tochter Frau Emma Haab-Escher, die im Oktober 1992 
verstarb, dazu entschlossen, zu ihrer Erinnerung dem 
Kunsthaus auch diesen rechten Flügel mit dem Christ- 
kind und den Vorderteilen von Ochs und Esel zu schen- 
ken und so die beiden zusammengehörigen Hälften auf 
Dauer wieder zu einem Ganzen zu vereinen. Geschaffen 
wurde es einst wohl als bedeutungsvoller Mittelpunkt 
einer Seitenkapelle, in der eine Familie, vielleicht auch 
eine Bruderschaft, auf den Gräbern ihrer Vorfahren für 
das Seelenheil der Mitglieder dieser die Generationen 
überdauernden geistlichen Gemeinschaft betete und sich 
in der Messe der Gegenwart Gottes versicherte. 
Doch gerade die Intensität derartiger Bindungen, ihre 
Kumulierung von Generation zu Generation, ihre Ver- 
äusserlichung durch die Häufung trug zum Bildersturm 
der Reformation bei, die eine neue, eine wiederhergestellte 
ursprüngliche Unmittelbarkeit und Spiritualität anstrebte. 
Das Schicksal der äusseren Zeichen der Frömmigkeit 
blieb dem Zufall überlassen, soweit sie nicht zu Brenn- 
holz für die Armen verarbeitet wurden. Was mit dem Mit- 
telstück unseres Altars, wohl einem Schrein mit der 
Madonna und Heiligenfiguren, geschah, wissen wir nicht; 
die Flügel jedenfalls gaben zwei praktische Schranktüren 
ab: die Spuren des grossen Schlosses sind noch gut zu 
sehen. Als das Möbel verschlissen war, wurden die Gemäl- 
de aus ihrer Fron, der sie ihre Erhaltung verdankten, 
erlöst; wohl bei einer Erbteilung gerieten die beiden Hälf- 
ten auseinander. Nachdem die Romantiker um 1800 in 
den ehemals liturgischen Gegenständen die Kunst als den 
die Zeiten überdauernden Wert entdeckt hatten, müssen 
sie einem Kunst- oder besser Altwarenhändler in die 
Hände gefallen sein. Während vom rechten Flügel unten 
etwa acht Zentimeter abgeschnitten wurden, spaltete man 
beim anderen die Aussen- von der Innenseite: so erhielt 
man zwei Bilder, die sich bequem nebeneinander hängen 
und einzeln verkaufen liessen. Die Heiligen Hieronymus 
und Sebastian, die den Heiligen Barbara und Katharina ent- 
sprachen, gerieten über den New Yorker Handel nach Ber- 
lin, wo sie bei der russischen Plünderung 1945 zerstört 
wurden.? Die Maria, ihres Kindes beraubt, erschien nun 
ungünstig exzentrisch: nachdem die Tafel schon vor der 
Spaltung oben um knapp acht Zentimeter verkürzt wurde, 
sägt man nun auch links achtzehn Zentimeter ab. Auf 
dem jetzt fehlenden Viertel wird nur weiteres Gemäuer 
oder wie auf dem Gegenstück ein Landschaftsausblick zu 
sehen gewesen sein; jedenfalls lassen sich hier kaum wei- 
tere Figuren vorstellen. 
Wohl der einzige spätgotische Altar der reformierten 
Schweiz, der heute noch — oder besser: wieder — in dem
	        
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