Volltext: Erstes Veilchenheft (21)

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Das Kunstwerk ist wie jede Einheit nicht Summe, sondern Zustand, 
wie ein chemischer Stoff nicht die Summe seiner Elemente ist. HaO 
bedeutet nur das Verhältnis von je 2 Teilen Wasserstoff zu je einem 
Teil Sauerstoff. Es bedeutet, daß sich je 2 Teile Wasserstoff und je 
ein Teil Sauerstoff das Gleichgewicht halten. Addiere ich SO3, so 
erhalte ich als H2SO4 einen neuen Stoff, der nicht mehr Wasser, 
sondern Schwefelsäure ist. In gleicher Weise ändert sich das Wesen 
rein künstlerischer Gestaltung, wenn ich zu dem Rhythmus der Teile 
etwa die Wirkung für oder gegen irgend etwas hinzunehme, und aus 
Kunst wird Kompromis. Man sieht, daß ich als Künstler mich nicht 
dazu bereit erklären kann. Nur Gleichgewicht ist das Ziel des 
Kunstwerks, und Kunst ihr Zweck. 
Kunst will nicht beeinflussen und nicht wirken, sondern befreien, 
vom Leben, von allen Dingen, die den Menschen belasten, wie 
nationale, politische oder wirtschaftliche Kämpfe. Kunst will den 
reinen Menschen, unbelastet von Staat, Partei und Nahrungssorgen. 
Man hält mir entgegen, daß ich die Zeit nicht miterlebte, wenn ich 
sie nicht irgendwie im Kunstwerk wiederspiegelte. Ich behaupte, daß 
die abstrakte Kunst, und nur die abstrakte Kunst, unsere Zeit 
spiegelt, denn sie ist die letzte logische Phase in der Entwicklung 
der Kunst in der ganzen uns bekannten Zeit, und sie ist keine An 
gelegenheit von Jahren oder Jahrzehnten, sondern sie ist voraus 
sichtlich die Kunst der nächsten Tausend Jahre. Die sogenannte 
neue Sachlichkeit in der Malerei ist eine vorübergehende, zeitliche 
und parteiische Reaktion; zudem ist der Name total verkehrt an 
gewendet, denn die neue und sachliche Kunst unserer Zeit 
ist die Abstraktion. Jede folgende Entwicklung kann nur 
aufbauen auf dem Grunde der Abstraktion, darstellende Kunst 
ist in Zukunft nur als Reaktion möglich, da die Entwicklung über sie 
hinweggegangen ist. So stehe ich als abstrakter Künstler, zwar dem 
sozialen und politischen Zeitgeschehen fern, aber ich stehe in der 
Zeit, mehr als die Politiker, die im Jahrzehnt stehen. 
Man hält mir vor, ich beachtete nicht die Jugend, die, ganz gleich, 
ob sie rechts oder links steht, in unserer Zeit nichts von der abstrakten 
Kunst wissen will, weil es bei ihr um andere Dinge geht. Ich glaube 
nicht, daß es bei der Jugend ausnahmslos um andere Dinge geht. 
Aber ich bemerke, daß beide Extreme, die rechten sowohl wie die 
linken Parteien, sich alle erdenkliche Mühe geben, die Jugend in 
ihrem Sinne für Politik zu erziehen. Da kann es dann geschehen, 
daß die so erzogene Jugend, die hier ganz im Sinne der Erwachsenen 
denkt, an der Kunst nicht viel Gefallen findet; aber das ändert sich. 
Denn es gibt nichts dem Menschen so wertvolles, als das Sichversenken 
in die strenge Gesetzmäßigkeit der Kunst. Fassen Sie es nicht als 
Lästerung auf, daß der Begriff der Gottheit, der die Menschheit Jahr 
tausende lang beglückt hat, über alle nationalen und sozialen Schran 
ken hinweg, mit dem der Kunst nahe verwandt ist. Das Sichver 
senken in Kunst kommt dem Gottesdienst gleich in der Befrei 
ung des Menschen von den Sorgen des Alttags. Gerade deshalb gibt 
die Kunst um so mehr, je ferner sie sich vom Nationalen und Sozialen 
hält, je mehr sie das rein Menschliche will, das Sichversenken, das 
Schauen und Hören, das Sichselbstvergessen. Zwar ist die Kunst nicht 
ausschließlich für die Sinne geschaffen, aber Darstellen und Aussagen 
sind nicht Ziele des Kunstwerks, wenn sie auch lange Zeit zu ihren 
Mitteln gehörten. An sich kann jedes Mittel und jedes Material im 
Kunstwerk gewertet und ausbalanciert werden, aber es kommt 
nicht auf das Mittel und das Material an, sondern auf die 
Kunst, die durch Wertung im Rhythmus entsteht. 
Nachdem nun die Entwicklung gezeigt hat, daß man beim abstrakten 
Bilde, d. h. beim Bilde, welches nicht darstellt sondern da-stellt, ein 
Kunstwerk schaffen kann, ist wieder eine weitere Stufe der 
Kunstentwicklung erreicht worden, und die Entwicklung kann nicht 
rückwärts gehen. 
Ich betone hier ausdrücklich, daß dadurch in der neuen Entwicklungs 
stufe nicht etwa wertvollere Kunstwerke entstehen, als in früheren Ent 
wicklungsstufen, sondern nur die zeitgemäßen; denn das Kunstwerk 
jeder Entwicklungsstufe ist unendlich, und da unendlich gleich un 
endlich ist, kann man Kunstwerke untereinander nicht werten. 
Es ist in der Litteratur schwer möglich, die Abstraktion rein durch 
zuführen, dazu genügen die heutigen Voraussetzungen noch nicht. 
Von meinen Dichtungen ist die am reinsten abstrakte die Ursonate, 
von der ich das Scherzo hier abgedruckt habe. Ich möchte hier auf
	        
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