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Das Kunstwerk ist wie jede Einheit nicht Summe, sondern Zustand,
wie ein chemischer Stoff nicht die Summe seiner Elemente ist. HaO
bedeutet nur das Verhältnis von je 2 Teilen Wasserstoff zu je einem
Teil Sauerstoff. Es bedeutet, daß sich je 2 Teile Wasserstoff und je
ein Teil Sauerstoff das Gleichgewicht halten. Addiere ich SO3, so
erhalte ich als H2SO4 einen neuen Stoff, der nicht mehr Wasser,
sondern Schwefelsäure ist. In gleicher Weise ändert sich das Wesen
rein künstlerischer Gestaltung, wenn ich zu dem Rhythmus der Teile
etwa die Wirkung für oder gegen irgend etwas hinzunehme, und aus
Kunst wird Kompromis. Man sieht, daß ich als Künstler mich nicht
dazu bereit erklären kann. Nur Gleichgewicht ist das Ziel des
Kunstwerks, und Kunst ihr Zweck.
Kunst will nicht beeinflussen und nicht wirken, sondern befreien,
vom Leben, von allen Dingen, die den Menschen belasten, wie
nationale, politische oder wirtschaftliche Kämpfe. Kunst will den
reinen Menschen, unbelastet von Staat, Partei und Nahrungssorgen.
Man hält mir entgegen, daß ich die Zeit nicht miterlebte, wenn ich
sie nicht irgendwie im Kunstwerk wiederspiegelte. Ich behaupte, daß
die abstrakte Kunst, und nur die abstrakte Kunst, unsere Zeit
spiegelt, denn sie ist die letzte logische Phase in der Entwicklung
der Kunst in der ganzen uns bekannten Zeit, und sie ist keine An
gelegenheit von Jahren oder Jahrzehnten, sondern sie ist voraus
sichtlich die Kunst der nächsten Tausend Jahre. Die sogenannte
neue Sachlichkeit in der Malerei ist eine vorübergehende, zeitliche
und parteiische Reaktion; zudem ist der Name total verkehrt an
gewendet, denn die neue und sachliche Kunst unserer Zeit
ist die Abstraktion. Jede folgende Entwicklung kann nur
aufbauen auf dem Grunde der Abstraktion, darstellende Kunst
ist in Zukunft nur als Reaktion möglich, da die Entwicklung über sie
hinweggegangen ist. So stehe ich als abstrakter Künstler, zwar dem
sozialen und politischen Zeitgeschehen fern, aber ich stehe in der
Zeit, mehr als die Politiker, die im Jahrzehnt stehen.
Man hält mir vor, ich beachtete nicht die Jugend, die, ganz gleich,
ob sie rechts oder links steht, in unserer Zeit nichts von der abstrakten
Kunst wissen will, weil es bei ihr um andere Dinge geht. Ich glaube
nicht, daß es bei der Jugend ausnahmslos um andere Dinge geht.
Aber ich bemerke, daß beide Extreme, die rechten sowohl wie die
linken Parteien, sich alle erdenkliche Mühe geben, die Jugend in
ihrem Sinne für Politik zu erziehen. Da kann es dann geschehen,
daß die so erzogene Jugend, die hier ganz im Sinne der Erwachsenen
denkt, an der Kunst nicht viel Gefallen findet; aber das ändert sich.
Denn es gibt nichts dem Menschen so wertvolles, als das Sichversenken
in die strenge Gesetzmäßigkeit der Kunst. Fassen Sie es nicht als
Lästerung auf, daß der Begriff der Gottheit, der die Menschheit Jahr
tausende lang beglückt hat, über alle nationalen und sozialen Schran
ken hinweg, mit dem der Kunst nahe verwandt ist. Das Sichver
senken in Kunst kommt dem Gottesdienst gleich in der Befrei
ung des Menschen von den Sorgen des Alttags. Gerade deshalb gibt
die Kunst um so mehr, je ferner sie sich vom Nationalen und Sozialen
hält, je mehr sie das rein Menschliche will, das Sichversenken, das
Schauen und Hören, das Sichselbstvergessen. Zwar ist die Kunst nicht
ausschließlich für die Sinne geschaffen, aber Darstellen und Aussagen
sind nicht Ziele des Kunstwerks, wenn sie auch lange Zeit zu ihren
Mitteln gehörten. An sich kann jedes Mittel und jedes Material im
Kunstwerk gewertet und ausbalanciert werden, aber es kommt
nicht auf das Mittel und das Material an, sondern auf die
Kunst, die durch Wertung im Rhythmus entsteht.
Nachdem nun die Entwicklung gezeigt hat, daß man beim abstrakten
Bilde, d. h. beim Bilde, welches nicht darstellt sondern da-stellt, ein
Kunstwerk schaffen kann, ist wieder eine weitere Stufe der
Kunstentwicklung erreicht worden, und die Entwicklung kann nicht
rückwärts gehen.
Ich betone hier ausdrücklich, daß dadurch in der neuen Entwicklungs
stufe nicht etwa wertvollere Kunstwerke entstehen, als in früheren Ent
wicklungsstufen, sondern nur die zeitgemäßen; denn das Kunstwerk
jeder Entwicklungsstufe ist unendlich, und da unendlich gleich un
endlich ist, kann man Kunstwerke untereinander nicht werten.
Es ist in der Litteratur schwer möglich, die Abstraktion rein durch
zuführen, dazu genügen die heutigen Voraussetzungen noch nicht.
Von meinen Dichtungen ist die am reinsten abstrakte die Ursonate,
von der ich das Scherzo hier abgedruckt habe. Ich möchte hier auf