Volltext: Nr. 1(1917), Mai (1)

Von RICHARD HUELSENBECK 
I. 
Benvenuto Cellini sehnt sich im 
TraumedieSonnenscheibezu sehen, 
wir aber wollen sie am Tage fühlen 
als mächtig pulsierendes Herz, als 
absolute Massregel unserer Per 
sönlichkeit, als Ziel unseres Geistes. 
Wir hörten zuviel von den Dialogen 
der Toten, allzu Künstliches empfing 
unser Ohr, so dass wir Gefahr liefen, 
Innerlichkeiten zu verlieren. Worte, 
Worte, zuviel Worte - die Stille muss 
aufstehen und das Ohr muss für das 
Orphische heiligster Nächte parat 
sein. Es wechseln Tage und Nächte, 
Götter fallen von ihrem Thron, das 
aber bleibt, wodurch wir wachsen 
und Mensch sind. Wir haben ganz 
tief in uns hinein zu sehen, um be 
greifen zu können, was sich aus 
Menschlichem machen lässt und wo 
die Synthese aller Fähigkeiten und 
Dinge des Menschen zu suchen ist. 
Wir müssen ganz ehrfürchtig werden 
vor der Gewalt unserer Seele, wenn 
wir die Erfahrung erreichen wollen, 
die uns sagt, dass das Imponderabil 
eines erhabenen Augenblicks eine 
bessere Beantwortung komplizier 
tester Fragen sein kann, als präzi 
seste Berechnung. Die Banalität ist 
Wahfheu,dass zu s:oh bst i 
muss, wer berufen ist, zu vielem ja- 
zusagen. 
Der neue Mensch muss die Flü 
gel seiner Seele weit ausspannen, 
seine inneren Ohren müssen gerichtet 
sein auf die kommenden Dinge und 
seine Knie müssen sich einen Altar 
erfinden, vor dem sie sich beugen 
können. Er trägt das Pandämo- 
niumnaturae ignotaein sich 
selbst und niemand kann etwas dafür 
oder dagegen tun. Verrenkt zum 
Göttlichen, der Erlösung entgegen 
taumelnd wie Fakire, Styliten und 
Lumpenmärtyrer aller Jahrhunderte, 
die geheiligt worden sind, sieht er 
sich eines Tages von der Glut sei 
nes Herzens erschlagen, verzehrt, 
niedergerissen—er der Jauchzende, 
Irrende, paralytisch Verzückte. Ahoi, 
ahoi, Geissein und Hussah, Kriege 
seitAeonen her und doch Mensch, 
der neue Mensch, gleichsam aus 
allen Aschen erstanden, von den 
Toxinen phantastischster Welten 
genesen, mit dem Erleben der Pros- 
kribierten, Vertierten, mit Kot und 
den teuflischen Ingredienzien be 
schmierten Europäer,Afrikaner, Poly 
nesier jeder Art, jeden Geschlechts 
gesättigt, saturiert, vollgestopft bis 
zumEckel: sieh da,derneue Mensch. 
Er hat seine Kraft, die in zwei 
Vertikalen zum Himmel federt, doch 
liegt in der Ausbreitung nach oben 
nichts Gewaltsames und die Mystik 
der Steigerung ist nicht abenteuer 
licher als ein buon giorno oder 
ein felicissima notte. Der 
neue Mensch findet sich selbst in 
ekstatischer Erlösung, er betet sich 
selbst an, so wie Maria den Sohn 
anbetet. Ipsum quem genuit adoravit 
Maria. 
Der neue Mensch ist nicht neu, 
weil die Zeit es so will, die Neu 
orientierung, das Umsichtasten aller 
Blindlinge und Maulwurfsmenschen 
— er ist nicht die unterirdische 
Quelle, die auf die Axt des Barbaren 
wartet, um eine Verwendung zu 
finden — er ist nicht neu, weil ge 
ht! i@rt wird wie gemüllert wurde (der 
Tanz der Aktivisten, dieser Libertins 
der trockenen Seele ist einGeräusch 
vor seinen Händen) — er ist der 
Gott des Augenblicks, die Grösse 
der seligen Affekte, der Phönix aus 
dem gutem Widerspruch und er ist 
Reklame* 
immer neu, de»- homc novus eigenen 
Aaeis, weil sein Herz ihm in jeder 
Minute die Alternative bereit hält: 
Mensch oder Unmensch. Seine 
Wurzel zieht Kräfte ausmykenischem 
Zeitalter (die Thyrsusstäbe und 
Schellenklappen antikerTänzerinnen 
sind sein Nachmittagsgespräch) — 
er lebt einen Tag wie Lukian, wie 
Aretin und wie Christus — er ist 
alles und nichts, nicht heute, nicht 
gestern. 
II. 
Man muss von ihm erzählen wie 
von einem Vater, der gestern starb — 
die Erinnerung an ihn überwältigt 
uns, so sehr sind wir noch er selbst. 
Seine beste Charaktereigenschaft ist 
die Demut, die grosse Demut, die 
nichts verzeiht, weil sie alles versteht 
und niemals straft. Alles Magister 
hafte ist ihm fremd, er kennt kein 
System für Lebendes, Chaos ist ihm 
willkommen als Freund, weil er die 
Ordnung in seiner Seele trägt. Er 
liebt das Meer mehr als die Berge, 
weil es Symbol des Volkes ist, der 
Masse, der Verjüngung, des noch 
Nichts, des grossen Formenkorbes, 
des Materials aller göttlichen Sta 
tuetten. Seine Stirn ist hoch und 
weit und umfasst die menschlichsten 
Dinge, die Perlenkette der tabe- 
tischen Primadonna wie das Dekokt 
des besoffenen Kurpfuschers, den 
Harlekin der Strasse wie den De 
menten im Winkel der Krankenhäuser. 
Er kann sich so lächerlich machen. 
dass er mit jeder Geste seiner Hand 
an das Zwerchfell der versammelten 
Zuschauer rührt. Dann wird er zum 
Buckligen(zugleichhochgewachsen), 
der eine Rose im Knopfloch trägt 
und einen Orden auf dem Gesäss. 
Sein Gesicht leuchtet roter als Mohn, 
täuschtalle Farben vor,grau,violetten, 
hat den Perlmuttglanz venezianischer 
Schultern und schreit sich wie ein 
Marktschreier in die lachlustigen 
Herzen der Zuschauer. Die kleinen 
Mädchen werfen Aepfel nach dem 
Bauch seine Hänge-Hose, Steine 
werfen sie nach dem Schwein, das 
er sich als Haustier hält. Aber der 
neue Mensch entkleidet sich aller 
Häute, aller Brillen, Perrücken, 
Postichen und Schürzenbänder—er 
tritt von der Bühne, die er für nötig 
hält, mit wachsamem Schritt: sieh da 
der neue Mensch, welch ein Held 
bleibt er inmitten der grausamsten 
Lächerlichkeiten, welche Kraft in 
seiner Hose, welche Erhabenheit in 
seiner Armmuskulatur — er ist es, 
der den Menschen ihre Würde zu 
rückgibt und sie in ihrem Elend auf- 
Celephon: Tempelhof 988, fiützow 3553 
zurichten sucht. Wenn er von den 
Maiern erzählt, die die Madonna 
malten, weil sie sich in göttliche 
Augen verliebt hatten (wer verliebt 
sich heute in göttliche Augen) fallen 
alle Streifheiten von seinem Buckel 
und dem Buckel der Umstehenden. 
Seine Stimme ist in der Glocke, die 
man über dem Marktplatz läutet — 
ave, ave Maria. Der neue Mensch 
ist nicht für oder wider, er kennt 
keine Schmerzen der Polarität und 
Nationalitäten bedeuten ihm längst 
keine Gegensätze mehr. ,,Sie irren 
sich alle“, sagt er, „die an den Wert 
einer aristokratischen Lebensord 
nung glauben. Alle Aristokratien, die 
wir sehen oder gar die Aristokratien 
der Bildung, des Reichtums, des Na 
mens sind wertlos; denn es gibt nur 
die eine Seele, den einen Elan, die 
eine Tapferkeit, die jeder Mensch 
besitzt. Alle Pluralität ist ein Ge 
schwätz und noch kein Treppenwitz 
der Weltgeschichte — ein Affe, der 
sich putzt, ist darum nicht mehr als 
sein Nachbar. Ja — so — ganz gleich 
tut ihres mit angenommenen Eigen 
schaften, die ihr überschätzt — und 
wer sich nicht an einsamen Seen 
auf die Kiesel geworfen und seine 
Knie zerfleischt hat, ist ein Dieb am 
Leben. Falsch ist der Gedanke, dass 
mit derMacht der Geistigen eine Ver 
besserung der Welt erreicht werden 
könne — ach das Gegenteil wird 
sein; denn wir kennen die kleinen 
Arroganzen der Geistlinge und 
umgeschlagenen Literaten, die ihren 
dyspeptischen Tenor wie ein kost 
bares Wickelkind durch die lang 
weiligen Räume der Revuen tragen, 
ohne der Langeweile Weisheit je 
mals begriffen zu haben. Die Macht 
ist Attribut und Glanz des Bösen und 
darum erstrebenswert (auch für die 
Frommen, die doch nur leben, weil 
es Böses gibt). Wem fehlte nicht 
bald in euerer Welt das schöne und 
grausame Vergnügen, mit Dick- 
teufeln zu kämpfen? Verbessern? 
O — mon cheri — verbessere jene 
force extraordinaire Deiner Seele 
und vergiss nicht, dass sie zugleich 
deine force sexuelle ist. Glaub nicht 
an das Geschrei der Kastraten und 
Schwachbrüstigen,die die Folter aus 
der Welt schaffen wollen und denke 
an die Memoiren des Totenhauses“. 
Der neue Mensch glaubt nicht 
an die Phalanx der Geistigen, da er 
alle Schlachtordnungen in seinem 
merzen trägt. 
III. 
Der neue Mensch glaubt, nur 
einen Kampf zu kennen, den Kampf 
gegen die Trägheit, den Combat 
gegen die Dicken. Es handelt sich 
um das alte Gefecht der Dünnen 
gegen die Dicken, mein lieber Paul 
Beyer. Ronsard singt ein Lied gegen 
die Schwerköpfigen, die Igel, die 
Pfosten und Fels mauern — und so 
wünscht sich der neue Mensch das 
Schwert St. Georgs für seinen 
Drachen. Er sieht einen Baum an 
und findet, dass er nur die Fiktion 
eines Baumes vor sich hat, denn er 
sieht nur den Elan jeder Zelle, gross 
zu werden. Ein Baum, scheint ihm, 
ist nur Leidenschaft und Sehnsucht 
nach der Krone. Ja — er — der 
demütigste Mensch sucht sich seine 
Feinde (die rachitischen Möpse und 
Jungfern, die Pf äff lein der Tempe 
ramentlosigkeit) und er hat eine aus 
gemachte artistische Befähigung, 
sich seine Bürger aus den Löchern 
zu jagen. Sein Feind ist der Un 
ehrliche (der neue Mensch ist ehr 
lich und wahrhaft, ganz männlich, holz 
geschnitzt auch in pervertiertesten 
Lastern) der Halbe, der Dauerlügner 
und Trunkenbold eigener Hohlheit. 
Der Feind ist der Rufer an Europa 
(jener „späte Schwabingknabe“) der 
den Mist seines Hauses nicht ent 
fernt hat — der Rhytmenklüngel und
	        
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