Volltext: Der Sturm (13 (1922), 5)

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vereinsteint. Alle Kenntnisse sind relativ. Ab 
solut ist künstlerische Erkenntnis. Absolute 
Musik, an anderen Körpern wahrnehmbar, 
ist: „Whispering“, Foxtrott von John Schön 
berger (Eric Concerto’s Yankee-Jazz-Band). 
John Schönberger ist kein Komparativ von 
Arnold Schönberg, aber umso positivere 
Kunst. „Jonny“ von Friedrich Holländer, 
„Peaches in Georgia“, Fox-Trot (Jazz Band 
The Original Picadilly Four). Der Kom 
ponist hat nicht einmal einen Namen, aber 
dafür kann er komponieren. Ein unbe 
kannter Meister. 
Q Variete delectat 
Artisten arbeiten und Künstler denken. 
Artisten können etwas, Künstler denken 
etwas. Ein Mann hebt ein paar Eisenge 
wichte. Viele andere denken, das können 
wir nicht. Sie fühlen eine Überlegenheit 
und sind bezwungen. Hingegen wird es 
hohe Kunst, wenn Fräulein Müller auf 
der Bühne richtige Tränen weint; trotzdem 
ihre Bekannten genau wissen, dass sie 
eigentlich lustig ist. Sowie die Tränen 
kommen, geht es auf die Kunst über. Das 
Fräulein kann sich so verstellen, als obste 
natürlich bist. Plötzlich beweist der Mann 
dem unterlegenen Publikum, dass seine 
Gewichte aus Pappe sind. Herzliche Freude. 
Aber die Wirkung der Unterlegenheit war 
doch da. Man dachte auch nicht so sehr 
an die Schwere der Gewichte. Sie sahen 
nur sehr gross aus. Also sie sahen aus. 
Also ein optischer Eindruck. Und der 
Mann bewegte die Gewichte im Rhythmus 
der Schwere. Also Bewegung. Nur die 
Träne hat er vergessen. Der Excentric be 
handelt seinen Partner als Gliederpuppe. 
Denkende Menschen fürchten für die Ge 
hirnkraft des Menschen als Gliederpuppe. 
Er wird vielleicht das Berliner Tageblatt 
nicht mehr lesen können. Oder die Kultur 
wird spurlos an ihm vorüber gehen. Im 
Übrigen ist es sehr komisch. Herzliche 
Freude. Die Gliederpuppe, die natürliche, 
löst diese Wirkung nicht aus. Liegt die 
Komik darin, dass ein Mensch so tut, als 
ob er eine Gliederpuppe wäre. Aber wenn 
eine Gliederpuppe so tut, als ob sie Mensch 
wäre, plötzlich ist es Plastik. Skulptur. 
Also hohe Kunst. Die Plastik bewegt sich 
zwar nicht mehr, dafür ist sie sprechend 
ähnlich. Man kann sich sogar denken, dass 
sie weint. Die falsche Gliederpuppe, der 
Mensch nämlich, schlenkert mit den Armen. 
Herzliche Freude. Niemand kann sich der 
Wirkung der Komik entziehen. Dabei 
schlenkern wir doch alle mit den Armen. 
Also das Schlenkern kann es nicht sein. 
Vielleicht hat der Mann einmal überlegt, 
in welchen Zeitabständen er schlenkert, 
wann, wo und wie oft er sich bewegt. 
Überlegt muss er wohl haben. Denn 
am nächsten Abend wiederholt er genau 
dasselbe. Hingegen ist Fräulein Müller 
heute garnicht in Stimmung. Sie „spielt 
nicht“. Oder der Herr von der Presse 
schreibt, sie hätte viele Niiancen. Oder 
sie hätte Auffassungen. Sie lebt sich in den 
Geist ein. Man glaubt ihr bald die Jung 
frau von Orleans, so natürlich spielt sie sie. 
Der Herr von der Presse kennt nämlich 
die Jungfrau persönlich, die von Orleans, 
er kann es also beurteilen. Dressierte 
Affen tanzen den Rixdorfer, als ob sie 
Menschen wären. Menschen sehen hin 
gegen wie Affen aus, wenn sie etwas anders 
als Walzer tanzen, sagt die Ästhetik. Im 
Variete kann jemand tanzen, das heisst, 
Bewegungen optisch zu einem Organismus 
gestalten. Diese Art Tanzen, das Kunst 
ist, wird zur Entschuldigung grotesk ge 
nannt. Grotesk lässt man sich nämlich 
gefallen, weil hierdurch die Absicht be 
kundet wird, nicht einen natürlichen Men 
schen nachzuahmen. Wie der geht und 
der steht und der fällt. Der Kunsttanz 
hingegen wird mit der Seele ausgeführt. 
Das Gesicht leidet. 0 wie ich leide. Die 
Dame vergisst indessen zu tanzen, weil sie 
doch einen Augenblick leiden muss. Macht 
nichts. Beim Leiden kann man sich be 
stimmt etwas denken. Musik von Chopin. 
Indessen gestalten Equilibristen lebende 
Bilder. Gestalten Bewegung in Bewegung. 
Variete delectat. Es werden lebende Bilder 
gestellt. Unsere klassischen Malermeister 
werden versinnlicht. Meistens durch Damen 
mit Zinkweis und Goldbronce, persönlich 
auf den Leib geschmiert. Die Kunst wird 
vernatürlicht. Das Publikum langweilt sich 
zu Tode. Nur die Kenner denken an ihren 
Michelangelo. Er wird ihnen mit Gold 
bronce näher gebracht. Zum Schluss be 
wegen sich die Damen dankend, damit die 
Kavaliere nicht etwa denken, sie seien aus 
Stein. Auch Goldbronce lässt sich abwa-
	        
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