Volltext: Der blutige Ernst (6)

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Abhängigkeit. 
H eutiger Demokratien Inhalt; deren Bedeutung 
im Erschlagen des Ursprünglichen besteht. 
Demokratie belastet mit Abhängigsein von allen; 
eine vorgestapelte Masse — Umschreibung für die 
Interessen Besitzender und irgendwie Zahlender — 
wird als bestimmende Autorität ergaunert. Man ist 
solange Masse, als von sich aus zu handeln man 
unterläßt. Masse ohne Zeichnung und Akzent ist 
eine jener gefährlichen Ideologien, als deren tat 
sächliches, lebendes Instrument halbtote einzelne 
Menschen betäubt umherlaufen. 
Abhängigkeit enthält alle Merkmale tödlicher Ideo 
logie, da sie Einheit vortäuscht; dies eignet 
Ideologie — Metapher eines Wunsches — zum 
Werkzeug der Demokratie. Ideologie verbürgt dem 
Nichtzusichentschlossenen Grund und logischen Ab 
lauf seiner Existenz. Abhängigkeit ist aller Ge 
schichte Essenz, in der vorgeschrieben wird, jegliches 
stehe mit allem wie Ursache und Folge zusammen. 
Geschichteschreibung ist Katalog der Menschheit 
Sklaverei, Belastung mit Gestorbenem; Apologie 
der Erbsünde, des indirekten Bürgers. Der Un 
mittelbare hat nie Geschichte besessen; lehnt Be 
ziehung ab. Geschichte einer Funktion des Gesell 
schaftlichen, dieser erlebt nicht sich, sondern Vor- 
und Umstände und wünscht nach jeder Seite 
Garantie durch Autorität, durch Prämissen, da von 
Sich aus zu leben ihm unerträglich ist. Abhängig 
keit garantiert die sichernden Autoritäten, denn 
Empfinden der Abhängigkeit schafft und verbürgt 
Macht. 
Ohne Person und Geschick hängt also der Bürger 
von Autorität ab, die er aus seinem Bedürfnis nach 
Objekt, Hängen ohne einschließlich Verantwortlich 
keit, erwirkt. Pflicht heißt UnVerantwortlichkeit, 
heißt, der Bürger überträgt seiner Handlungen 
Kontrolle dem Andern. Der Andere, das distan 
zierte greifbare Objekt, das ist die moralische Ideo 
logie des Bürgers; er erwirbt Lebensgefühl durch 
die Beziehung zum andern; der Andere wird zur 
Metapher konsterniert, zur Einrichtung. Mittel viel 
fältiger, zugleich personersetzender Beziehungen — 
das Geld. Der Bürger treibt handelnd sich auf 
dem Umweg der Metapher, der Einrichtung, der 
Autorität umher, und erschwert es somit geschickt, 
das Fehlen der Person und des Lebens an ihm 
feststellen zu lassen. Andererseits steht hinter dem 
Gauner der allgemeinen Metapher die Ideologie 
der Masse, des vorgetäuschten consensus omnium 
auf. So redet der Bürger nie von sich, die Ideologie 
schützt ihn und setzt Masse hinter ihn; der Un 
mittelbare wird erschlagen, dessen Handlungen 
direkt, unideologisch geschehen. Handlung des 
Bürgers muß im andern begründet sein, abhängen. 
Hierfür besitzt er das relegiös benebelte Wort 
»notwendig«; der Bürger schleicht sich in die er 
logene Kausalität der Geschichtsidolatrie ein; 
äternisiert sich. Sein Vorleben ist Geschichte, 
seine Gegenwart möglich vielfältigste Beziehung 
zu Objekten, Besitz. 
Der Bürger erklärt und verdunkelt sein Leben 
in der Metapher des Allgemein-Menschlichen, er 
weist seine Abhängigkeit, Rationale inlphigenie nach; 
er funktioniert fatal im Kreis der autoritären Me 
taphern; flieht vor dem Ursprung. Sieg der Be 
ziehungen, Einrichtungen, Angst vor sich selbst 
ist eben bürgerliche Freiheit. Abhängen, Intimität 
mit Autoritativen, Anbetung gibt Würde, Gewicht 
und Macht. Man verquillt und vergißt sich (nie 
gewesene Person) in der herrschenden Ideologie, 
trägt sie und zwingt andere. 
Aus seiner Autoritätsverehrung leitet der Bürger 
Recht zu eigener Autorität ab. Der gesellschaftlich 
Eingeübte, Feste hängt von den Ideologien selbst 
ab; der Arme, Sprachlose, der gegen jede Ideologie 
hungert oder sich müht, hängt von den Personen 
und den Ideologien ab, die jene nach Bedarf auf 
ihn loslassen. Diejenige Klasse herrscht, die ihre 
Ideologien im weitesten Umfang materialisierte, 
herrschende Klasse besitzt immer die am leichtesten 
materialisierbaren Ideologien. Sie leistet sich nicht 
nur den tattötenden Besitz von Gegenständen, der 
jedes Ändern als Verbrechen zeichnet, sondern 
das verbrecherische Aneignen lebendiger, zur 
Sprachlosigkeit verurteilter Menschen. Der Arme 
steht wehrlos, da er keine Ideologie, keine Sprache 
besitzt. Diese liegt als Eigentum der Herrschenden 
wohlverwahrt und wird im Dienst dieser verfälscht 
verabreicht. 
Nur der Herrschende besitzt die Objekte, an 
denen er wollen kann; der Arme könnte nur sich 
wollen. Änderung seiner Selbst versuchen, Sturz 
der Paraphrase. Darum: man hänge ihn. Ich 
spreche hier nicht mehr von der gewollten ge 
meinschaftlichen Sklaverei unter Metapher und 
Ideologie, ich rede von der Sklaverei leiblicher 
Menschen, denen keine fälschende Metapher hilft, 
die noch als Natur umherdösen. Wird mit ge 
schwollener Historie, triefender Sentimentalität sie 
ihm endlich ausgestellt, hat der Arme für die be 
ruhigende Paraphrase seines Elends zu danken. 
Mit Vorliebe benutzt man Fest- und Gedenktage 
zum Feiern und Anfeuern solcher Sklaverei, die 
nur im viehischen Rausch der Presse betäubt 
werden kann. Die Familie stellt unter anderem 
eine beliebte Art des Besitzes an Personen dar. 
C. E. 
Ein Fragment aus dem Buch »Abbruch«, geschrieben von 
Einstein und Sternheim.
	        
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