Volltext: Der Marstall : Zeit- und Streit-Schrift des Verlages Paul Steegemann (1/2)

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die Albernheit abgewöhnen, Menschlichkeiten eines Dichters 
mit der Philister-Elle zu messen. Bleibt Goethe nicht Goethe, 
weil auch er Verse geschrieben hat, die wegen ihrer Sinnlich 
keit lange unter Verschluß gehalten und erst vor wenigen Jahren 
seinen Verehrern gezeigt wurden? Es ist ein Abstand zwischen 
Goethe und Verlaine, natürlich: aber die braven Bürger, die 
sich an den glücklichen Goethe" nicht herantrauen, sollten auch 
etwas Achtung für den unglücklichen Verlaine beweisen. Statt 
dessen wird muckerisch gesagt, Verlaines Buch „Frauen“ sei 
ein pornographisches, ein schmutziges und verwerfliches Buch. 
Ob der Staatsanwalt schon bemüht ist, weiß ich nicht; aber er 
wird wohl nicht auf sich warten lassen. Staatsanwälte haben 
auch Boccaccio und Casanova, Zola und Lemonnier verfolgt. 
Ein Staatsanwalt hat den genialen Panizza ins Gefängnis gesteckt. 
Warum sollte ein Staatsanwalt vor Verlaine Respekt haben, zumal 
da besagter Verlaine ein Franzose ist, noch dazu ein toter? 
Ob nun aber der Staatsanwalt kommt oder nicht; ein für allemal 
muß gesagt sein, daß Verlaines grausames und verwildertes Al 
tersbuch keineswegs als ein Kosthäppchen für Liebhaber ero 
tischer Bücherfreuden zu betrachten ist. Es ist derb und zynisch, 
ein Dokument tiefer animalischer Erniedrigung, aber in ihm ist 
keine Spur jener kitzelnden Lüsternheit, die sich in vielen an 
deren öffentlich feilgebotenen Werken findet — besonders in 
jenen verwerflichen Bilderblättchen, die heut in jedem Kiosk 
zur Schau liegen. Und es ist das Buch eines Dichters, dessen 
selbstzerfleischende Leidenschaft bei aller Hingerissenheit un 
säglich traurig stimmt. 
Wer Verlaine ganz verstehen will, muß auch dies menschlichste 
seiner Bekenntnisse schaudernd gelesen haben. Diese schmerzens- 
volle Passion der Leidenschaft ist nichts für empfindsame Seelen, 
ganz gewiß nicht. Sie ist brutal, wie das Leben. Sie ist krank, 
wie der alternde Mann krank war, der diese Verse schrieb. 
Dennoch: dies Werk bleibt Blut vom Blut Verlaines. Die Me 
lancholie der holden Zeilen aus den Ariettes oubliees: 
II pleure dans mon coeur 
Comme il pleut sur la ville . . . 
bebt klagend auch durch diese wilden Rhythmen. 
Nein, wir wollen es nicht dulden, daß Paul Verlaine noch im 
Grabe beschimpft wird! Paul Block 
Diese Sätze des Feuilletonredakteurs Dr. Paul Block brachte das 
Börsenblatt am 10. 7.1920 auszugsweise zurechtgestutzt, und hängte 
einen Schwanz an:
	        
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