Jahrgang 1915-16 Zürich, den 1. Januar, Nummer 4
Herausgegeben von Walter Serner
Kultur
Stets ist, wo ein Wort das hemmende Gefühl der Unsicher
heit begleitet, der Begriff noch unterwegs. Und oft hat er, wenn
er ans Ziel der vollen Bewusstheit hinaufgelangt, sein Wort ver
fehlt. Dieses Schicksal, das der geheimnisvolle Anschluss der
Sprache das fremde Wort fast immer erleiden lässt, ist in Ein
zelnen beschlossen und wirkt in den Vielen, die es nicht einmal
ahnen, das Unheil der Phrase. Sie verwahrlost nirgends so wie
da, wo sie ein Wort ist. Denn als Bild erscheint sie für etwas,
das einmal war und, wenn nun auch anders und nicht mehr ganz,
doch immerhin noch ist; als Wort aber für einen Begriff, der
niemals war und ganz anders ist.
Kultur ist solch ein Wort. Es ist stets zu hören, wenn ein
Zustand, weicher das letzte Lob erhalten solll, zu bezeichnen ist.
Mag er nun aber einem, der das Wissenswürdige aus allen Zeiten
sich zu eigen machte, zugesprochen werden, oder dem, der lebt,
als würde er es kennen, das Gefühl, es werde dort zu viel, hier
zu wenig gesagt, ist unabweisbar. Es kehrt nicht weniger hart
näckig wieder, wenn jener Wissende zum Teil eines Ganzen er
hoben wird und dieser andere nicht dazu gehört. Auch die lange
Reihe der äusseren Zustände, die vergangen oder gegenwärtig
Kultur geheissen werden, vermag als sichtbares Ergebnis eines
inneren Zustands den Begriff nicht zu sichern. Denn das, wo
durch der Parthenon von der ägyptischen Pyramide sich unter
scheidet, ist nur das Wort Kultur. Beide werden von ihm ge
troffen, ohne es zu erfüllen. Dem Parthenon ist es zu gross,
wenn es der Pyramide, dieser zu kurz, wenn es jenem passen
soll. Und auch hier gilt vom Teil, was auf das Ganze zutrifft.
Die Behauptung, das korinthische Kapital enthalte den Ausdruck
einer grösseren Kultur als ein viereckiger Sandstein, kann vor
dem Ohr der Sprache so wenig bestehen wie die, eine gothische
Schlosskemenate sei aus demselben Grunde einem kahlen Zimmer
vorzuziehen. Dieses Schwankende wird dadurch noch vermehrt,