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leben des Zuhörers ist, durch das Spiel, das dieses Erleben
überdies fälschlich vorwegnimmt, aufgehoben wird, dass er nur
wirken könnte, wenn dem Zuhörer alles überlassen bliebe, und
dass das Theater ein schlechter Ersatz für das Buch ist. Denn
die, welche zu lesen wissen, haben dort nichts zu vollenden,
und die, welche ins Theater gehen, um überhaupt etwas zu er
leben, vollenden etwas ganz anderes.
Nicht mehr das Bedürfnis, zu sich zu kommen, treibt sie
ins Theater, sondern das, sich zu fliehen. Und wie da, wo es
um Inneres geht, Ursache und Wirkung oft verwechselt werden,
so war auch hier der Schauspieler nicht die Ursache seines
Publikums, sondern dessen Wirkung. Nachdem es sein Schicksal
geworden war, seinen Kampf nicht mehr zu kennen, liess es ihn
sich Vorspielen. Mit diesem Fall von jenem Gipfel, auf dem es
vergeblich in sich zurückgewiesen ward, hielt es jedoch seine
Höhe. Denn liier kam es noch vor das Drama, welches dem,
der es schrieb, Erlebnis gewesen war und zu keiner Vollendung
hätte werden können, auch wenn es nicht gespielt worden wäre.
Das Erlebnis solchen Spiels war lediglich die Schauspielerei, die
von der Bühne mitgenommen wurde und einige Tage hindurch
den fehlenden Kampf erfolgreich bekämpfte. Dieser Kampf
wurde einem zum Drama und er nannte ihn Komödie. Sie war
das Drama der Schauspielerei. Da es aber wieder gespielt
wurde, wurde alles Schauspielerei und Schauspielerei alles. In
diesem Zustand der Entwicklung, die immer den Niedergang
bedeutet, war man auf der Flucht vor sich selbst am Ziel.
Während aber an jenem andern nur keine Unruhe zu finden ist,
gewährt dieses niemals diese Ruhe. Und so begann ein aber
witziges Kreisrennen, in dessen Mitte der grosse Götze stand:
das Schau-Spiel. Zirkus und Variete, Kabarett und Tingel-Tangel
waren seine Altäre und obenan das Theater. Alles, was jemals
aus dem Geist geboren ward, wurde dem Schau-Spiel geopfert
und der Schauspieler, der bis dahin doch wenigstens ein Idol
gewesen war, abgesetzt. An seine Stelle trat die Komparserie,
die Massenszene, die Technik und was ehedem immerhin mensch
licher Selbstbetrug war, wurde nun schändlicher Frevel. Shakes
peare wurde zum Ballett unter echten Bäumen und das,, Mirakel",
das ein konjunkturkundiger Salonjobber verfertigte, in die Manege ge
schleppt, um mit einer heiligen Handlung, einem neuartigen Spielort,
Battaillonen von Statisten, Glockenläuten, Zirkusgeruch, rauschen
den Draperien, Doppelreflektoren und Weihrauch ein Schau-Spiel
zu bieten, das niemals noch seinesgleichen hatte. Von hier aus
war nur noch ein Schritt zum Verzicht auf das Wort, auf das
man längst verzichtet hatte. Aber auch er war schon getan.
Der Kino, dieser Triumph des Schau-Spiels, war bereits in den
Varietes und in den Vorstädten und wurde nun ein Kammer