Volltext: Almanach der Freien Zeitung (1918)

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die Kaste, nicht auf das Volk sich stützen kann.“ Hat 
man das Ziel verstanden 1 Der Kaiser soll in Zukunft 
nicht mehr „lieber Jude“, sondern „mein liebster Jude“ 
sagen. 
Der Weg der Sitte. 
Ein innerpolitisches Buch zu schreiben, das Popu 
larität erlangt und doch nach' oben nicht verstößt, son 
dern sogar karessiert, ist heute selbst in Deutschland 
kein Kinderspiel mehr. Die Aufgabe kann nur gelöst 
werlden auf dem „Wege der Sitte“, das heißt der Mysti 
fikation. Indem man die dralle Kokotte Germania am 
Reformationsbusen kitzelt. Mit Seele, Glauben, Ge 
wissen, Verantwortung; mit Vokabeln aus der Bibel 
sprache, Transzendenz, Freiheit, handfestem Anti 
feminismus und einem wohl arrangierten, undurchsich 
tigen, anonym intellektualiisierten Stil, aus dem der 
Durdhsohnittspastor nur die lutheranische Phrase, 
gewissermaßen das Evangelium herauszuhören braucht, 
um begeistert zu sein. Herr Rathenau präsentiert sich 
indessen nicht nur in der Geste des Reformators, er 
präsentiert sich in allen Rollen, die der preußischen 
Tradition teuer sind. In der Rolle des Cato Censorius, 
der den Luxus beschneidet; in der Rolle des Frei 
herrn von und zum Stein, der den gleichen „Volks- 
staat“ erstrebte, den Rathenau zu erstreben vorgibt; 
in der Rolle des Salvator Borussiae. Der Weg der 
Sitte führt Herrn Rathenau in summa zu einer Art 
protestantisch-feudaler civitas dei, und ich frage den 
großen deutsehen Schriftsteller und Katholiken Franz 
Blei, was er heute wohl zu diesem Herrn Rathenau 
sagt, dessen „ehernen Stil“ er vor Zeiten bewunderte, 
den man heute aber getrost einen der größten Schau 
spieler des Protestantismus uüd theologischen Buffo 
nennen darf. Der Weg der Sitte und die „Geschäfts 
kunst“, wie Rathenau die Politik nennt, führt ihn 
darüber hinaus zu dem Bekenntnis: „Mit Recht ist 
unserem Empfinden die Bewegung der großen franzö 
sischen Revolution fremd“, und auch dies Bekenntnis 
gegen Enthusiasmus, Liebe und Verbrüderung er 
schließt die neudeutsche Seele. „Rüstung bedeutet
	        
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