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das deutsche Volk einmal klar erkannt hat, wie tief
die Militärdespotie in die Geschichte des Reiches ein-
greifen konnte, wie oft es einer numerisch unbedeu
tenden Koterie gellang, auch die besten Verfassungs
grundsätze und Mehrheitsbeschlüsse durch geheime
Maßnahmen unwirksam zu machen, sobald man be
greift, daß in Preußen-Deutschland bloß scheinbar
„konstitutionell“ regiert wird, muß das Verlangen
nach radikaler Umbildung ebenfalls der Heeresleitung
und dessen, was mit ihr zusammenhängt, ganz natür
licherweise sich regen. Hier wird es wahrscheinlich
die ungemütlichsten Meinungsverschiedenheiten zwi
schen der Demokratie und den Anhängern des alten
Zwangssystems — zu Deutsch „Militarismus“ — ab
setzen. Die Hohenzoillern selber werden sich im Punkte
ihrer Militärautokratie besonders zäh erweisen. Viel
leicht wird es nur einen einzigen unblutigen Weg zur
Verständigung geben: für martialische Zwecke mög
lichst wenig Geld zu bewilligen. Freilich wird man
dann zunächst wieder von „drohenden Kriegsgefahren“
hören. Kontrolliert aber das Volk durch den Reichs
tag erst einmal tatsächlich und nicht bloß theoretisch
die äußere Politik, so kann die kaiserliche Regierung
beziehungsweise eine Militärpartei nicht mehr „feind
liche Ueb er fälle“ ausklügeln. Das Säbelgerassel wird
dann schon von selber aufhören.
Mit diesem Gedanken haben wir bereits angedeutet,
daß auch der diplomatische Betrieb reformbedürftig
ist. Bislang hat sich der Kaiser die Vertreter des
Reiches, oder genauer seiner eigenen Politik im Aus
lande, fast durchweg in Kreisen gesucht, die mehr
Wert auf Traditionen als auf Völker- und Menschen
kenntnis zu legen scheinen. Wie der höhere Offiziers
rang in den „bessern“ Regimentern, so ist auch die
diplomatische Laufbahn, von ganz wenigen Aus
nahmen abgesehen, ein Privilegium des Adels ge
blieben. Sogar der gegenwärtige Reichskanzler
v. Bethimann-Hollweg, dessen Familie, wenn ich mich
nicht irre, im Anfang des vorigen Jahrhunderts ge
adelt wurde, ist den uradeligen Junkern und den
großen Feudalherren nicht vornehm genug. Schon sein