Volltext: Almanach der Freien Zeitung (1918)

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nicht, daß dieses Prinzip im höchsten Gegensatz mit 
allen jetzigen positiven Religionen, mit allen gegen 
wärtigen Kirchen steht? . . . 
Sie wissen, daß die Menschheit ihrer erhabenen 
Bestimmung gemäß sich nur in einem universal-prak 
tischen Prinzipe befriedigen und beruhigen kann, in 
einem Prinzipe, das die tausendfach verschiedenen Er 
scheinungen des geistigen Lebens mächtig in sich zu- 
sammenfaßt. Wo ist aber dieses Prinzip, meine 
Herren? Sie müssen doch mitunter auch lebendige und 
menschliche Augenblicke in dem Fortgang Ihrer sonst 
so traurigen Existenz erleben, Augenblicke, in denen 
Sie die kleinlichen Motive Ihres Alltagslebens von 
sich ab werfen und sich nach der Wahrheit, nach dem 
Großen, dem Heiligen sehnen. Antworten Sie mir nun 
aufrichtig, die Hand aufs Herz: Haben Sie etwas Le 
bendiges gefunden? Haben Sie je unter den Ruinen, die 
uns umgeben, diese ersehnte Welt entdeckt, wo sie sich 
gänzlich aufgeben und in dieser großen Kommunion mit 
der glanzen Menschheit sich wiedergebären konnten? 
Ist etwa diese Welt der Protestantismus? Aber er ist 
der furchtbarsten Anarchie preisgegeben. Ist es etwa 
der Katholizismus? Wo ist aber seine alte Herrlich 
keit? Ist er nicht jetzt, er, der sonst über die ganze 
Welt gebot, ist er nicht zum gehorsamen Werkzeuge 
einer ihm fremden, unsittlichen Politik geworden? — 
Oder finden Sie vielleicht Ihre Beruhigung im gegen 
wärtigen Staate? Ja, das wäre wirklich eine schöne 
Beruhigung! Der Staat ist jetzt im tiefsten innerlich 
sten Widerspruch begriffen . . . 
Sehen Sie endlich in sich selbst, meine Herren, und 
sagen Sie mir aufrichtig: Sind Sie mit sich selbst zu 
frieden und können Sie mit sich zufrieden sein? Sind 
Sie nicht selbst, ohne Ausnahme, traurige und dürftige 
Erscheinungen unserer traurigen und dürftigen Zeit? 
Sind Sie nicht voller Widersprüche? Sind Sie ganze 
Menschen? Glauben Sie an etwas wirklich? Wissen 
Sie, was Sie wollen und können Sie überhaupt etwas 
wollen? Hat an Ihnen die moderne Reflexion, diese 
Epidemie unserer Zeit, einen einzigen lebendigen Teil 
übrig gelassen und sind Sie nicht durch und durch
	        
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