Volltext: Zeit-Echo (3(1917), 1. und 2. Maiheft)

ORGAN 
Eine Zeitschrift hat heute gar keinen lebendigen Sinn. Sie ist ein 
Konversationsmittel geworden, wie es vor hundert Jahren das Lexikon war. 
Zeitvertreib mit Betrachtung. 
Aber Geschriebenes, Gezeichnetes, Gedrucktes hat nur noch Wert, wenn 
seine Formulierung äußerste Notwendigkeit ist; wenn es so notwendig ist, 
daß es aufreizend wirkt durch den Mut zum Schlagwort; wenn seinem Ur 
heber die Hingabe so wichtig ist, daß er auch vor der Einfachheit der Platitüde 
nicht zurückschreckt. Also das Gegenteil von Bibliophilie. 
Eine Zeitschrift hat auch im besten Fall noch das Unglück, leicht 
bibliophilen Charakter zu tragen, immer noch nicht unmittelbar zu sein. 
Dies eingestanden. 
Aber gerade der Inhalt, der Wert, das Geistige, das Wort, das die 
Menschen vor die Entscheidung zur Unbedingtheit stellt, muß auf die 
unmittelbarste, direkteste Art unter die Menschen gebracht werden. Das 
Ideal ist: das Flugblatt, der bibliothekarisch ganz wertlose Wisch, der ein 
fache bedruckte Fetzen Papier, den man in die Tasche stopft. Oder man 
wirft ihn weg, und nur darauf kommt es an, daß man ihn nie wieder ver 
gessen kann, wenn man einen Blick auf ihn warf: so tief hat er getroffen. 
Eine Zeitschrift wird oft ein Organ genannt. Aber die einzige, die 
allereinzige Existenzberechtigung? die eine Zeitschrift heute noch haben 
kann, ist, daß sie ein Organ ist. Ein wirkliches Organ, unsymbolisch gemeint. 
Ein Organ wie Kopf, Augen, Mund, Arme, Beine des Menschen, eine Fort 
setzung und Erweiterung der menschlichen Glieder bis zur lebendigen 
Berührung des andern Menschen. 
Eine Zeitschrift ist nicht zur Erkenntnis da. Nicht zur Betrachtung, 
nicht zum Genuß. Sie ist auch keine Tribüne, an der Meinungen zur 
Diskussion gestellt werden. Sie hat Lebensrecht nur, wenn sie Bewegung, 
Griff und Darreichung dieser letzten, unbedingten und verzweifelten 
Menschen ist, die bereit sind, ihre Person völlig mit ihrer Sache zu identi 
fizieren; die ihr Ziel des Geistes mit jedem Mittel ihres Körpers durch 
setzen wollen; denen Reden, Handeln, Schreiben keinen Unterschied be 
deutet, sondern bloße verschiedene Äußerungsformen der menschlichen 
Liebestätigkeit. Und die zuletzt gedruckt werden, nicht um des Veröffent- 
lichens willen, sondern nur weil sie so gleichzeitig zu mehr und verschie 
deneren Menschen gelangen, als allein durch die gesprochenen Worte im 
kleinen Zimmer.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.