Volltext: Zeit-Echo (3(1917), 1. und 2. Juniheft)

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Und um das mit Unbarmherzigkeit tun zu dürfen, ist mir zuerst eine 
unbarmherzige Demut gegen mich selbst von nöten. 
Wenn ich aber kein Leben mehr finde? Es gibt viele die wahrhaftig tot 
sind, die kein lautester Ruf des Lebens mehr weckt. Um sie freilich geht der 
Kampf nicht, und wir könnten die Toten ihrer Toten begraben lassen. Hätten 
sie nicht gerade das junge Leben so sehr in den Händen. 
Wer gehört auf die wahrhaftige Seite, wenn nicht die Jugend? Und unsere 
Studenten haben Kriegsdemonstrationen veranstaltet. Ist es nicht wichtiger 
als gegen Tote zu kämpfen, dass wir unsere lebendigen Kinder vor ihnen retten? 
Und jede Schule in „gegnerischer“ Hand ist ein Ansteckungsherd. Statt künftiger 
Gegner Brüder und Mitkämpfer heranzuziehen für den Tag, der vielleicht bald, 
vielleicht später, der aber sicherlich kommt: ist das nicht das Wichtigste? 
‘Friedrich ‘Mark 
‘Ferne ßänder 
Cooke und Baedeker haben Jahrzehnte lang an unserem Bewußtsein 
gearbeitet, um daraus das Gefühl der Fremde des fernen Landes auszurotten, 
die Grenzen zu verwischen. Dann plötzlich wurde die Grenze jedes Landes 
zu einer ununterbrochenen Kette lebendiger Körper, und alles jenseits davon 
wurde uns unzugänglicher als das Innere Afrikas. Doppelt zensurierte Depeschen 
allein bringen uns kärgliche Botschaft von drüben. 
Aber hundertmal fremder noch als diese feindlichen Territorien ist uns 
der breite Saum diesseits der tausendkilometerlangen Schützengräben. Kein 
Livingstone kann uns die dunklen Geheimnisse dieser Himmelsstriche enthüllen. 
Die Geographie dieser Orte ist in der Zeitung weder unter der Rubrik „Aus 
nah und fern“, noch unter „Wissenschaftliches“ behandelt; die Tageschronik 
jener Bewohner heisst „Heeresbericht“ und wird mit Bluttinte jeden Tag 
weiter geschrieben. Einmal schaut der phantasielahme Leser auf der flimmernden 
Kinoleinwand die Landschaft: Stein- und Schutthaufen; die Sehenswürdig 
keiten: eingestürzte Brücken und zerschmetterte Kathedralen; das Leben der 
Bewohner: gepäckbeladene Haufen auf der Flucht. Die Kanonenmusik dazu 
gedacht — man ist unterrichtet! 
Doch was wissen wir von dem Leben der Menschen in den sogenannten 
okkupierten Gebieten dieser hundertvierzig Wochen? „Die Sterblichkeit beträgt 
98 Promille. Die Ernährung der Bevölkerung ist auf 200 Gramm Brot beschränkt, 
sonst werden keine Nahrungsmittel verteilt“... (Für den deutschen Reichskanzler 
bestimmtes Telegramm Litauischer Organisationen an den Chef der „Militär 
verwaltung Litauen“.) Das erfahren wir aus den Zeitungen über das Dasein 
dieser Menschen, für die Unglück und Verzweiflung nur gesteigert, nie unter 
brochen wurde, die für ihr Martyrium mit keinem Kreuze gelohnt werden, 
für die es weder „Erholungsurlaub“ noch „Versetzung“ gibt. In den ersten 
Kriegsmonaten schrieben auch die Zeitungen, dass die Bevölkerung in Namur 
kochendes öl auf die Soldaten gegossen, in Lodz dagegen dieselben Soldaten
	        
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