Volltext: Zeit-Echo (3(1917), August-September)

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Pritschen, über denen die drei großen Horizontalventilatoren kreisten. 
Auch in die Fenster waren sausende Ventilatoren eingebaut, die das 
Wort .Krieg* Tag und Nacht in die Länge zogen. 
Der Leichenwärter führte den Anwalt zu dem vierzigjährigen Manne, 
der, von links gezählt, auf der fünften Pritsche lag und ein ungeheuer 
klagendes, zart hellblaues Gesicht hatte. 
Der Anwalt erkannte in der Leiche sofort den Philosophen, dessen 
Einleitungsband einer .Gegensatzphilosophie* erst kürzlich erschienen war. 
Schrecken und Zorn wechselten in schneller Folge in den Augen des 
Anwaltes, beim Erblicken dieses hellblauen Gesichtes, das erstarrt war 
in der Klage darüber, daß ein dreist-materialistisches, ungeistiges Zeit 
alter nicht erlaubt hatte, das Lebenswerk aufzubauen und zu vollenden. 
„Weshalb hat er sich denn umgebracht? Weshalb denn?“ 
„Weiß nicht. Aber gewöhnlich liegt die Einberufung zum Militär 
dienst auf dem Tische; oder die Nachricht, daß der Mann gefallen ist, 
der Sohn . . . Bei dem Mädchen dort war’s der Bräutigam.“ Er deutete 
auf das Mädchen, das, von links gezählt, auf der sechsten Pritsche neben 
dem Philosophen lag und wie er ein zart hellblaues Gesicht hatte. 
Beide hatten sich mit Gas vergiftet. 
„Weshalb griff er denn dem Schicksal vor? Er hätte sich doch sagen 
können: nicht alle fallen an der Front.“ 
„So habe ich bis vor zwei Jahren auch gedacht; seither habe ich mit 
vielen Angehörigen gesprochen ... Es ist eben bei vielen nicht die Furcht 
vor dem Tode; es ist die Furcht vor der Kaserne. Es gibt Leute, die 
den Kasemenhof . . . und so weiter nicht ertragen.“ Der Leichenwärter 
setzte sich, stützte den Ellenbogen auf eine Bahre, auf der eine Wasser 
leiche lag: ein schlammiges, grünes Etwas ohne Nase und Augen. Der 
Bauch war hoch auf getrieben. Wasser tropfte immer noch gleichmäßig 
von der reinen, weißen Bahre hinunter auf den reinen Boden. Die Leiche 
war drei Wochen lang geschwommen. 
,Ist das Leichenschauhaus auch ein Feld der Ehre, auf dem Menschen 
liegen, die gestorben sind für des Reiches Größe und Weltmachtstellung?* 
„ . . . Wer ist dieser Ertrunkene?“ 
„Das weiß man nicht. Zurzeit werden siebzehn Leute in Berlin ver 
mißt. Einer von diesen ist er . . . Man kommt gar nicht mehr zu sich.“ 
Der Leichenwärter war stark abgemagert, sah übermüdet und schwind 
süchtig aus und trug ein offenes Hemd mit Schillerkragen. 
„Viel zu tun?“ . . . .Weshalb frage ich ihn das?*
	        
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