Volltext: Zeit-Echo (3(1917), August-September)

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„Es geht ununterbrochen. Ununterbrochen! Jeden Tag werden durch 
schnittlich acht bis zehn Selbstmörder eingeliefert . . . Vor dem Kriege 
einer, höchstens zwei im Tage.“ 
„Jeden Tag acht? Allein in Berlin?“ Dabei werden längst nicht alle 
Selbstmörder ins Leichenschauhaus gebracht, weiß ich aus Erfahrung, 
dachte der Anwalt. „Elektrisches Licht ist auch hier?“ , . . . Weshalb frage 
ich das?* 
Ein paar Sekunden blieb es still im Schauhause. Die Morgendäm 
merung lag noch über den Leichen, schmolz sie zusammen zu einer 
dunklen Masse. 
„Ja, auch elektrisches Licht . . . Und rollbare Pritschen. Elektrische 
Weckapparate. Dynamoventilatoren. Überhaupt das Allerneueste auf 
diesem Gebiete . . . Dieses Luftsaugröhrensystem ist ganz neu.“ Er stand 
müde auf, drehte am Schalter; drei Bogenlampen zischten, spritzten grell 
weißes Licht: 
die zwanzig Leichen schienen lebendig geworden zu sein. Stille und 
wilde Gesichter. Manche sahen aus, als wollten sie etwas sagen. 
„Auch ein Sauerstoffapparat für die mit Gas Vergifteten ist da. Und 
ein kleines Wartezimmer für die Angehörigen. Nebenan wohne ich.“ 
„Wohnen Sie? . . . Alles tadellos.“ . . . Was geschieht mit diesem 
Volke? Warum ruiniert man dieses Volk? Dieses geduldige, fleißige, 
tüchtige, temperamentlose, gründliche Volk, das protestlos alle Qualen des 
Daseins trägt und protestlos stirbt, an der Front und in der Stadt. Dieses 
Duldervolk, dem mit Hilfe des denkbar raffiniertesten Systems das Denken 
und damit schon von vornherein jeder Einzelprotest unmöglich gemacht 
worden ist . . . Wenn es endlich einmal protestiert, wird sein Protest ge 
duldig, fleißig, tüchtig, temperamentlos und ungeheuer gründlich, unge 
heuer blutig sein . . ., falls seine Herren in dem von Gott gesetzten Augen 
blick nicht freiwillig gehen.* 
Ohne gefragt worden zu sein, sagte der Wärter: „Ich führe eine Sta 
tistik der Todesarten Berliner Selbstmörder. Momentan habe ich drei 
Erhängte, fünf Wasserleichen, zwei Giftleichen, sieben Gasleichen, drei, 
die sich aus dem Fenster gestürzt haben, und nur einen, der sich er 
schossen hat; einen Soldaten, der auf Urlaub war. Dort liegt er . . . Die 
Pritschen reichen nicht mehr aus. Am häufigsten sind die Gasleichen.“ 
„Weiß man, weshalb sich der Soldat erschossen hat?“ 
„Wird seine Frau nicht so vorgefunden haben, wie sich das gehört. 
Oder er wollte nicht mehr hinaus. Viele wollen nicht mehr hinaus . . .
	        
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